Politische Justiz. Otto Kirchheimer

Politische Justiz - Otto Kirchheimer


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die Möglichkeit, mit der Strategie eines politischen Derivatverfahrens die Karriere eines politischen Gegners zu vernichten, seine Wirksamkeit zu untergraben und verderbliche politische Symbolbilder zu prägen und sich festsetzen zu lassen. Zu dieser Strategie gehört es, dass man einen bestimmten Abschnitt aus der politischen Lebensbahn des bekämpften gegnerischen Politikers herausgreift und als kriminell unter Beschuss nimmt. Der angegriffene Politiker muss dann klagen und sich als Kläger, um seinen Ruf zu wahren, an seine Deutung der Vorgänge klammern, die der beklagte Angreifer als von seinem Standpunkt besonders ergiebig in verzerrendes Scheinwerferlicht zu rücken für richtig befunden hat.

      a) Der Oppositionsführer: Affäre Caillaux

      Im Herbst 1917 war Frankreich nach drei Jahren Krieg in einer wenig erfreulichen Verfassung. Die Stimmung der Zivilbevölkerung in der Heimat und der Soldaten an der Front war auf den tiefsten Stand seit Kriegsbeginn gesunken. Verluste an Menschenleben, Verschlechterung der Lebenshaltung, wirtschaftliche Zerrüttung und weitverbreitete Missstände in der Verwaltung hatten jegliche Begeisterung für die siegreiche Weiterführung des Krieges erdrückt. Nach dem langen Stillstand an der Marne hatte die Regierung, weitgehend englischem Druck nachgebend, eine kostspielige Offensive unter der Führung Robert Nivelles (1856 - 1924) angeordnet, der seit Dezember 1916 an der Spitze der nördlichen und nordöstlichen Armeegruppe stand. Die im April begonnene Angriffsaktion erreichte nichts anderes, als dass die vorher geplante Umgruppierung und Positionsbefestigung der deutschen Truppen beschleunigt wurde. Im Mai wurde Nivelle abberufen.

      Dass in Russland die Revolution ausgebrochen war, half noch weniger; das Verlangen nach baldiger Beendigung des Krieges wurde dadurch nur gefördert. Unruhen unter den Truppen nahmen zu. Ende des Sommers wurden offene Meutereien unter den französischen Heeresverbänden im Nahen Osten gemeldet und anschließend kam der seit langem schwelende Konflikt zwischen französischen und englischen Heerführern offen zum Ausbruch. Reibungen unter den Alliierten vermehrten sich trotz dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg; Woodrow Wilson hatte sich durchaus nicht darauf festgelegt, den Krieg bis zum niederschmetternden Sieg fortzuführen.

      Die wachsende außenpolitische Spannung verschärfte die innenpolitischen Schwierigkeiten der Regierung. Die Allparteienkoalition der Union Sacrée, die es der Regierung in den Anfangsphasen des Weltkonflikts ermöglicht hatte, dem Druck der normalen parlamentarischen Auseinandersetzungen auszuweichen, war faktisch auseinandergefallen. Das für die Nivelle-Offensive verantwortliche Kabinett wurde von allen Seiten torpediert: Von innen von Kriegsminister Paul Painlevé (1863 - 1933), der nach links tendierte und die Einbeziehung der Sozialisten forderte, und von außen von Georges Clemenceau (1841 - 1929), der sich zum Siegesapostel aufgeworfen hatte und immer größere Kriegsanstrengungen verlangte. Clemenceau, der jahrzehntelang als Bannerträger der Linken gegolten, viele konservative Regierungen gestürzt, manchen Rechtspolitiker ruiniert und immer wieder Verschwörungen der Militärs gegen die Republik angeprangert hatte, war in den Kriegsjahren zu einer Politik der Allianz mit dem Militär umgeschwenkt und nun eifrig bemüht, monarchistische und ultranationalistische Anschläge auf die Republik zu vertuschen.

      Im August 1917 gelang es Clemenceau, den Innenminister Louis Malvy (1875 - 1929) aus dem Amt zu vertreiben: Er hatte monarchistischen Umtrieben zu eifrig nachgespürt und nicht genug nationale Siegesbegeisterung an den Tag gelegt; später sollte ihm wegen Landesverrats der Prozess gemacht werden. Im September hatte das Kabinett keine parlamentarische Mehrheit mehr. Painlevé, der eine neue Regierung (ohne Sozialisten) bildete, hatte aus den allerletzten Ereignissen nicht genug gelernt: auch er enthüllte eine monarchistische Verschwörung unter Armeeoffizieren. Weitere Enthüllungen dieser Art, schloss Clemenceau, würden der Moral der Nation abträglich sein; im November erreichte er den Sturz des Kabinetts Painlevé.

      Darüber, was nun geschehen sollte, gingen die Meinungen der führenden politischen Gruppierungen weit auseinander. Einig war man sich darüber, dass defätistische Kampagnen, die von undurchsichtigen Journalisten und Finanzagenten mit deutscher Unterstützung betrieben wurden, mit polizeilichen und gerichtlichen Mitteln unterbunden werden sollten. Über Krieg und Frieden dagegen konnte man sich nicht einigen. Immer von neuem wurden von neutralen Ländern und von den schwächeren Partnern des feindlichen Mächteblocks, namentlich von Österreich, Friedensfühler ausgestreckt. Wie sollte man sich dazu verhalten? Die Anhänger des Krieges bis zum siegreichen Ende, die Clemenceau mit einer beharrlichen und rücksichtslosen Propaganda- und Intrigenoffensive unermüdlich antrieb, konnten sich auf den Präsidenten der Republik Raymond Poincaré (1860 - 1934) stützen; das militärische Kommando war fest in den Händen Ferdinand Fochs (1851 - 1929); im Parlament stand hinter ihnen eine lose Koalition der Mitte und der Rechten. Diese Gruppen betonten vor allem die gegenüber den Verbündeten eingegangenen Verpflichtungen und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens aller Ententemächte; ihre Abneigung gegen Friedensinitiativen wurde dadurch bestärkt, dass sich die österreichische Regierung wenig geneigt zeigte, sich ein für alle Mal von ihrem deutschen Bundesgenossen zu trennen.

      Am Gegenpol, namentlich unter den verschiedenen Linksgruppen, kam zur starken Enttäuschung über den endlosen und ausweglosen Stellungskrieg die wachsende Unzufriedenheit mit der Bevormundung durch England und mit dem Übergewicht der Engländer in der militärischen Führung.

      In Russland hatte Lenin die Macht an sich gerissen und sein Land aus dem Krieg herausgezogen. Wilson schien diplomatischen Friedensvorbereitungen Sympathien entgegenzubringen. Ein Friedensschluss durch Verhandlungen schien sich in der Ungewissheit des Jahres 1917, in dem alles vertagt und hinausgezögert wurde, als die willkommenste Lösung anzubieten.

      Doch waren die Gruppen, die zu einem solchen Vorgehen neigten, weder untereinander einig noch endgültig zu einer Politik bereit, die bis dahin stets als Landesverrat gebrandmarkt worden war. Sollten sie gemeinsam agieren, so mussten sie sich von einer starken politischen Persönlichkeit von großem Ansehen und großer Werbekraft führen lassen. Der umsichtige Mathematiker Painlevé war nicht der Mann der Stunde; ebenso wenig war es der große Rhetoriker Aristide Briand (1862 - 1932), obschon er sich als Ministerpräsident und Lenker der Außenpolitik manche Verdienste erworben hatte. Ein einziger Politiker kam als Kristallisationspunkt für eine Friedenskoalition in Frage: Joseph Caillaux. Vielen drängte sich, als das Kabinett Painlevé zu Fall kam, die Alternative Caillaux als unausweichlich auf. Fast sah es so aus, als gebe es nur eine Wahl: Entweder Clemenceau, der Hohepriester des Sieges, oder Caillaux, Symbol der Verständigung. Caillaux hatte sich aus der aktiven Politik am Vorabend des Krieges zurückgezogen, aber man kannte ihn: Er kritisierte die Sinnlosigkeit des Krieges, er war vor dem Krieg für eine deutsch-französische Annäherung eingetreten, und er verfügte über mannigfache politische und finanzielle Beziehungen in allen Hauptstädten der Welt.

      Wenigstens zeitweilig begruben die alten Feinde Poincaré und Clemenceau die Streitaxt, um vereint gemeinsame Feinde zu schlagen. Der Tiger trat an die Spitze der Regierung. Sogleich wurden Pläne entworfen, Caillaux nicht nur eine Niederlage in der parlamentarischen Ebene zuzufügen, sondern ihn auch buchstäblich zu vernichten. Er sollte vor Gericht gestellt und als schlechter Patriot, als schnöder Verräter an der Nation entlarvt werden. Damit hoffte man alle Friedensinitiativen und alle defätistischen Neigungen tödlich zu treffen. Wer dabei die treibende Kraft war, ist nicht ganz geklärt. Dass Poincaré von tiefem Hass gegen Caillaux erfüllt war, war kein Geheimnis. Zwei Jahrzehnte später sollte Caillaux von Georges Mandel, Clemenceaus politischem Testamentsvollstrecker, Dokumente aus dem Privatarchiv des Tigers überreicht bekommen, die Poincaré als den Initiator und Planer der Ächtungsaktion hinstellten. Wie dem auch sei: Caillaux,


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