Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Die Wahl eines republikanischen Gouverneurs, behaupteten sie, werde automatisch die Begnadigung der bereits Verurteilten und des im Jahre zuvor gewählten, nun flüchtigen Gouverneur Taylor nach sich ziehen.25 Die Wähler wurden davor gewarnt, eine Regierung an die Macht zu bringen, die das Schwurgericht des Kreises Franklin wegen gesetzwidriger Freiheitsberaubung zur Rechenschaft ziehen werde, weil es für die Schuldsprüche in Sachen Goebel verantwortlich sei. Der amtierende Gouverneur Beckham, den die Demokraten zum Gouverneur wählen lassen wollten, machte die Verweigerung der Begnadigung zu einem Hauptpunkt seines Wahlprogramms.
Nicht ganz so einfach ließ sich die Sache der Republikaner präsentieren. Natürlich erklärten sie, sie hätten mit dem Mord nichts zu tun; natürlich sagten sie, die wirklichen Täter müssten bestraft werden; natürlich bestritten sie mit Nachdruck die Schuld ihrer führenden Personen. Sie erinnerten aber auch beredt an Fehlurteile der Gerichte, denen Männer wie Titus Oates und Alfred Dreyfus zum Opfer gefallen seien. Mit solchen Mahnmalen sollte die flagrante Ungerechtigkeit der Goebel-Prozesse unterstrichen und die Begnadigung der Verurteilten durch die Staatsexekutive als die einzige Möglichkeit hingestellt werden, das Unrecht wiedergutzumachen. Den Hintergrund gab das tragische Bild der verblutenden Freiheit ab.26
Ob die Wahlkampfrhetorik auf die Mörder und ihre Hintermänner einschlug oder ob sie die Bemühungen um den Schutz der Freiheit vor »vergoebelten« Demokraten in den Himmel hob: Der Fall Goebel blieb im Mittelpunkt der Wahlkampagne. Das Wahlergebnis zeigte einen kleinen Vorsprung der Demokraten, aber von einem gewaltigen Sieg konnte keine Rede sein. Das Amt des Gouverneurs fiel an Beckham mit einer knappen Mehrheit von 3.700 Stimmen. Die Republikaner gewannen gegenüber dem Vorjahr einige Hundert Stimmen, während die Demokraten nur etwa die Hälfte der Stimmen zurückerobern konnten, die sie im Jahr zuvor an die abgesplitterten »Anhänger ehrlicher Wahlen« und an die Populisten hatten abgeben müssen.
Da Beckham wieder an der Spitze der Staatsexekutive stand, war die Begnadigung der in den Goebel-Prozessen Verurteilten ausgeschlossen. Sie legten Berufung ein, die Prozesse zogen sich jahrelang hin. Howard hatte die Urteile zweimal angefochten und zweimal ihre Aufhebung erwirkt; aber auch ein dritter Prozess trug ihm 1902 lebenslängliches Gefängnis ein. Nach zweimaliger Berufung erreichte Powers 1903 einen dritten Prozess und – wurde zum Tode verurteilt. Noch einmal wurde das Urteil angefochten. Im vierten Prozess 1908, an dem auch republikanische Geschworene und ein etwas objektiverer Richter mitwirkten, kam es zu keinem Urteil, da unter den Geschworenen keine Einstimmigkeit zu erzielen war: Zehn von ihnen stimmten für Freispruch und befürworteten Begnadigung. Die Begnadigung kam, nachdem die Republikaner 1907 alle Staatsämter erobert hatten. Powers wurde nach der Freilassung in einem sicheren republikanischen Wahlkreis als Kongresskandidat aufgestellt und diente anschließend, ohne sich besonders bemerkbar zu machen, vier Gesetzgebungsperioden in Washington ab.
Schon lange vorher hatte die Goebel-Affäre jede öffentliche Wirkung eingebüßt. Auf die Staatswahlen von 1903 hatte sie kaum einen Einfluss; Beckham wurde für eine volle Amtsperiode mit einer wesentlich größeren Mehrheit (26.450 Stimmen) gewählt, als sie in Kentucky in zehn Jahren vorgekommen war. Als die Tabakpächter 1907 das Banner der Rebellion gegen die Demokraten entrollten, war die Erinnerung an den Fall Goebel fast ganz verblasst. Vorübergehend sollten noch auf der politischen Bühne andere Morde und andere Begnadigungen auftauchen, aber keiner dieser Fälle war in ein so einzigartiges Geflecht politischer und juristischer Strategie verwoben; keiner von ihnen wurde zum Brennpunkt eines verzweifelten und allumfassenden Kampfes um die Macht.
Im Detail ist der Fall Goebel hier erzählt worden, weil er so ungewöhnlich durchsichtig ist. Im brutalen Konflikt, von dem Kentucky 1900 geschüttelt wurde, verschmolz der politische Streit auf einzigartige Weise mit der strafrechtlichen Auseinandersetzung. Hätte es einen eindeutigen Beweis dafür gegeben, dass die Führer der Republikaner, um an der Macht zu bleiben und ihre Position im Staat zu festigen, auch vor Mord nicht zurückschreckten, so hätte wahrscheinlich das vereinte Gewicht politischer Interessen, empörten Rechtsbewusstseins und moralischer Entrüstung die Republikanische Partei zerschmettert. Der wirkliche Ablauf der Ereignisse brachte es aber mit sich, dass mit der Kette der Prozesse von 1900 die zentralen Fragen verwischt wurden. Der Teil der Öffentlichkeit, der nicht von vornherein Partei ergriffen hatte, gelangte zu keinem klaren Bild: Die Zeugenaussagen widersprachen einander, so mancher Zeuge wurde als höchst unglaubwürdig bloßgestellt, und der Schleier, der die Tatsachen verhüllte, konnte nicht zerrissen werden.
Es wäre eine nur natürliche Reaktion gewesen, wenn sich Menschen weit und breit vom organisierten politischen Getriebe enttäuscht abgewandt und der Rechtspflege kein Vertrauen mehr entgegen gebracht hätten. Nichts dergleichen zeigte sich bei den Wahlen von 1900. Das politische Kräfteverhältnis blieb nahezu unverändert. Geringfügige Wahlenthaltung traf eher die Demokraten als die Republikaner. Der Riss in den Reihen der Demokraten war – wenn auch nur oberflächlich – zusammengeleimt worden; das genügte, der Partei eine schmale Mehrheit zu verschaffen. Dass es im Wahlkampf im Wesentlichen um Prozesse und Begnadigungen gegangen war, hatte kaum auf eine nennenswerte Zahl von Wählern Eindruck gemacht. Gerade die größeren Probleme der nationalen Politik, die beide Parteien in Kentucky aus dem Wahlkampf hatten heraushalten wollen, spielten bei der Stimmabgabe bezeichnenderweise eine größere Rolle als in den leidenschaftlich geführten Wahlkampfdebatten. Bryan siegte in Kentucky mit einer Mehrheit von 8.000 Stimmen, hatte also gegenüber seinem republikanischen Rivalen McKinley einen doppelt so großen Vorsprung wie Beckham gegenüber dem seinigen.
Die Anklägerrolle, die die Demokraten auf sich genommen hatten, hatte ihnen offenbar in gewissem Umfang geschadet. Wären ihnen die Stimmen der Anhänger der Silberwährung, die sie 1899 verloren hatten, wieder zugefallen, so hätten sie weit mehr Stimmen auf sich vereinigen müssen, als Bryan mit seinen etwas über 200.000 Wählern hatte mobilisieren können. Darüber hinaus scheint die offizielle Mordbeschuldigung die Republikaner weniger Stimmen gekostet zu haben, als sie gleich an dem Tag, an dem Goebel ermordet wurde, verloren und im Lauf des Jahres auf dem Altar des »Kreuzes aus Gold« geopfert haben mögen, das die großen Monopole und die Goldwährung nach Bryans geflügeltem Wort dem amerikanischen Volk aufgebürdet hatten.
3. Vom Sinn und Zweck des Landesverräterstigmas
Die beiden Fälle, die hier zunächst besprochen werden, gehören noch der Übergangsära an, wie sie den Anfang der zwanziger Jahre kennzeichnete. Beide hängen mit politischen Vorgängen zusammen, deren Ursprung im Ersten Weltkrieg zu suchen ist. Ihre gerichtliche Behandlung beruhte auf Rechtsvorstellungen, die aus der Vorkriegszeit stammten. Aus der heutigen Perspektive lässt sich jedoch deutlich erkennen, dass in diesen Episoden bereits die politischen Sitten und Denkgewohnheiten einer späteren Zeit vorweggenommen waren.
In beiden Prozessen wird das Bemühen sichtbar, die Mauer niederzureißen, die Rechtsprechung und Rechtslehre im 19. Jahrhundert zwischen dem Nichtdelikt der Gegnerschaft gegen die Politik der Regierung und dem Delikt des Landesverrats, zwischen Meinungsverschiedenheiten über den Kurs der nationalen Politik und tätigem Zusammengehen mit dem auswärtigen Feind errichtet hatten. Auf der vergrößerten politischen Bühne der Massendemokratie wurde das Räderwerk der Gerichte als Hilfsmechanismus für politisches Handeln in Anspruch genommen oder auch schon ganz in die Sphäre politischen Handelns eingegliedert. Die revolutionären Explosionen, für die der Zündstoff im Schützengrabenschlamm des Ersten Weltkriegs zusammengetragen worden war, zerstörten, was von der Scheidung von Opposition und Verrat, der großen Leistung der politischen Justiz in der vorhergehenden Periode, noch übriggeblieben war. Mit dieser Scheidung schwand aber das für sie entscheidende Element der Deliktbegrenzung dahin, das dazu beigetragen hatte, das menschliche Individuum vor politischem Machtmissbrauch des Staates oder privater Gruppierungen und Verbände zu schützen.
Am ersten Fall, der zur Sprache kommt, lässt sich zeigen, wie das schwere Geschütz eines Landesverratsprozesses von der Regierung, die gerade an der Macht ist, zur Ausschaltung und Mundtotmachung eines politischen Gegners benutzt wird, wobei ihr die Ingangsetzung des Gerichtsverfahrens gleichzeitig