Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Rechte gegen einzelstaatliche Übergriffe) aufheben; die Gesetzgebende Versammlung von Kentucky habe »unter Außerachtlassung aller Gesetze und in äußerster Mißachtung des verfassungsmäßigen Rechtes freier Menschen, ihre Herrscher zu wählen«, gehandelt.17 Allerdings war Harlan selbst ein prominenter republikanischer Ex-Politiker aus Kentucky; vorher hatte er freilich als fanatischer »Konservativer« in den Reihen der Republikaner die Rechte der Gliedstaaten gegen Eingriffe des Bundes verteidigt und 1865 sogar eine wütende Pressekampagne gegen den Dreizehnten Verfassungszusatz (Abschaffung der Sklaverei) lanciert, weil er einen »flagranten Einbruch in das Recht der Selbstverwaltung« darstelle.18 Dieser nicht ganz konsequente Jurist konnte sich indes gegen seine Kollegen nicht durchsetzen. Die Demokraten hatten die erste Runde gewonnen.
Schon aber begann die zweite Runde. Die Gouverneurnachwahl für die von Goebel nicht wahrgenommene Wahlperiode sollte im November stattfinden. Der demokratischen Führung kam es entscheidend darauf an, die Aufmerksamkeit der Wähler vom Wahlgesetz, das so viele Proteste ausgelöst hatte, und von der einseitigen Wahlentscheidung der Gesetzgebenden Versammlung abzulenken. Wie wollte man das besser erreichen, als indem man die Republikanische Partei der Mitschuld an Goebels Ermordung bezichtigte? »Die Republikaner sagten: ›Sie haben die Wahlen in ihr Gegenteil umgefälscht‹, und die Demokraten antworteten: ›Sie haben unseren Gouverneur ermordet‹«.19 In den sechs Monaten, die folgten, konzentrierten die, wie es in der republikanischen Wahlpropaganda hieß, »vergoebelten« Demokraten alle Anstrengungen darauf, die Schuld der Republikaner anzuprangern. Für die Festnahme und Strafverfolgung der Mörder setzte die Gesetzgebende Versammlung mit ihrer demokratischen Mehrheit den für die damaligen Zeiten phantastischen Betrag von 100.000 Dollar aus!
Dass man Schüsse abfeuerte, um einen Menschen zu töten, war nach dem Sittenkodex, der im 19. Jahrhundert in Kentucky galt, weder außergewöhnlich noch besonders aufregend. Die Ermordung Goebels fiel nur insofern aus dem Rahmen, als sie die einzigartige Gelegenheit bot, einer der führenden Parteien ein Mordkomplott in die Schuhe zu schieben.
Die Anklagebehörde hatte einen Beamten des Staatsrechnungshofs namens Henry E. Youtsey aufgestöbert, der als Mitverschworener dabei gewesen sein wollte, als aus den Amtsräumen des Staatssekretärs auf Goebel geschossen wurde. Als den eigentlichen Täter bezeichnete Youtsey einen gewissen James B. Howard, der mit den Leuten aus den Bergen nach Frankfort gekommen war. Der Attentatsplan sollte in mehreren Besprechungen ausgeheckt worden sein, an denen auch Gouverneur Taylor und Staatssekretär Powers aktiv teilgenommen hätten. In weiteren nicht minder fragwürdigen Zeugenaussagen wurde eine ganze Anzahl Funktionäre und politisch tätiger Anwälte aus den Reihen der republikanischen Parteiorganisation belastet.
Die Erzählungen der Zeugen fügten sich nur zu genau in die Pläne des demokratischen Parteiapparats ein. Zwar hatte Taylor nach der Entscheidung des Obersten Gerichts den Kampf um das Amt des Gouverneurs aufgegeben und war nach Indianapolis geflohen, und der Staat Indiana verweigerte seine Auslieferung mit der Begründung, in Kentucky werde die Justiz in den Dienst der Politik gestellt. Powers aber war festgenommen worden, als er sich zur Flucht rüstete. Dass die führenden Republikaner versucht hatten, sich einem Gerichtsverfahren durch die Flucht zu entziehen, wurde als Eingeständnis ihrer Schuld ausgelegt und in alle Welt hinausposaunt. Und dass Powers bei seiner Verhaftung außerdem noch eine von Taylor unterzeichnete Begnadigungsurkunde im Hinblick auf angebliche Beteiligung am Goebel-Mord mit sich führte, schien ihn nicht zu entlasten, sondern erst recht zu belasten.
Howard, der Mann, der geschossen haben sollte, bestritt nachdrücklich und beharrlich jede Beteiligung am Attentat und jede Kenntnis von einem Mordkomplott; dasselbe galt von Powers und auch von Taylor, der zwar nie vor Gericht erschien, aber eine schriftliche Aussage unterbreitete. Außer Youtsey meldeten sich keine Augenzeugen. Zweifelhaft war sogar, ob die Schüsse überhaupt aus Powers’ Amtsräumen gekommen seien. Aussagen, die Powers belasteten, muteten von Anfang fraglich an und wurden im Kreuzverhör vollends zerpflückt. Auch sonst waren die meisten Aussagen konfus und voller Widersprüche.20 Entscheidende Zeugen waren auf diese oder jene Weise mitbelastet worden und damit der Anklagebehörde, die ihnen mit Niederschlagung der Verfahren winkte, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Die Geschworenenbank, die über Powers’ Schuld zu befinden hatte, setzte sich ausschließlich aus Demokraten zusammen; der Richter, der den Vorsitz führte, war ein demokratischer Politiker, ehedem stellvertretender Gouverneur von Kentucky.
Die Verantwortung der republikanischen Führung hätte sich nur feststellen lassen, wenn der Zweck der bewaffneten Expedition nach Frankfort eindeutig zu ermitteln gewesen wäre. Hatte Powers die Leute aus den Bergen als Totschläger in die Hauptstadt beordert, damit sie demokratische Politiker umbrächten? Oder waren sie nur gekommen, der Gesetzgebenden Versammlung eine Petition zu unterbreiten, auf dass der Wille der Wähler zur Geltung komme? Der Richter verwarf nicht nur die meisten Rechtsbelehrungsanträge der Verteidigung, sondern gab sich bei der Zusammenfassung des Prozessmaterials auch noch die größte Mühe, dieser überaus wichtigen, wenn nicht gar entscheidenden Frage ihre Bedeutung zu nehmen.21 Vor den Novemberwahlen wurde der Schuldspruch benötigt. Am 17. August 1900 brauchten die Geschworenen dafür – nach sechswöchiger Prozessdauer – nur 20 Minuten. Das Urteil lautete auf lebenslängliches Gefängnis. Parteiführer und Zeitungsleute reagierten so, wie man es hätte erwarten dürfen. Für die Demokraten gab es keinen Zweifel daran, dass die gesamte Republikanische Partei des Mordes für schuldig befunden worden sei. Den Republikanern bewies das Urteil »blitzlichtartig«, dass der Staat in Lebensgefahr schwebe; er sei, sagten sie, an den Rand des Abgrundes gebracht worden.22
Mit dem Powers-Urteil waren indes die Wahlvorbereitungen der Demokraten noch nicht abgeschlossen; zwei weitere Schuldsprüche sollten folgen. Am 5. September wurde auch Howard zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt. Mit demselben Urteil endete das Verfahren gegen Youtsey, das im Oktober stattfand. Youtsey legte keine Berufung ein und machte in späteren Prozessen Aussagen, die noch andere Angeklagte schwer belasteten. Daraus wurde geschlossen, dass er der Schuldige oder einer der Schuldigen gewesen sein müsse. Die volle Wahrheit ist nie ans Tageslicht gekommen.23
Scharf kritisiert wurde die Taktik der Verteidigung. Der erfahrene Verteidiger weiß, wie anfällig Geschworene für Propagandaargumente sein können; er weiß – mit oder ohne Zynismus –, dass er daran nicht vorbeigehen darf. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hat ein führender Anwalt aus Frankfort auf taktische Versäumnisse der Verteidigung hingewiesen: Im ersten Prozess der Serie, der noch vor dem Powers-Prozess geführt wurde, hätten die Verteidiger mit der Anklagebehörde zusammen das Komplott der republikanischen Führung in den Mittelpunkt gestellt und damit den Freispruch des Angeklagten Garnett D. Ripley erwirkt, dem Beihilfe zur Last gelegt worden war; mit derselben Taktik müsse es möglich gewesen sein, die Verurteilung Howards zu verhindern und ihm Jahre im Gefängnis zu ersparen; diesen Weg hätten zwar Powers’ Verteidiger im zweiten Prozess, lauter bekannte Demokraten, eingeschlagen, aber da sei es zu spät gewesen: Ihre republikanischen Vorgänger im ersten Prozess von 1900, denen es hauptsächlich darauf angekommen sei, die eigene Parteiführung reinzuwaschen, hätten bereits zu großen Schaden angerichtet. Allerdings hätte es angesichts der prominenten Stellung des Angeklagten sowieso »ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen« sein müssen, Powers zu verteidigen.24 Das alles mag sehr unverblümt ausgedrückt sein, hat aber manches für sich.
Während die Prozesse weitergingen, näherte sich der Wahlkampf seinem Gipfelpunkt. Bis zum Oktober hatten die Demokraten das Wahlgesetz abgeändert und einen der wichtigsten Streitpunkte hinweggeräumt. Da der Kampf um den Besitz der Macht in Kentucky im Vordergrund blieb und die große nationale Auseinandersetzung