Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Siehe das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. August 1954, StE 68/52 und 11/54, in {Bundesanwalt Dr. Walter Wagner (Hg.):} Hochverrat und Staatsgefährdung. Urteile des Bundesgerichtshofes, {Band I,} Karlsruhe, 1957, S. 19-73.
50 Ebda., S. 55 ff., 66.
51 Besonderen Schutz für politisch exponierte Personen gewähren in Deutschland der 1951 eingeführte § 187a des Strafgesetzbuches und in Frankreich Art. 26-35 der Verordnung vom 6. Mai 1944; Art. 35c schließt jedoch den Wahrheitsbeweis aus, wenn die behauptete Tatsache das Privatleben der beleidigten Person betrifft oder sich auf Vorgänge bezieht, die mehr als zehn Jahre zurückliegen. Der letzte Teil der Bestimmung beschwört unzählige Auslegungsschwierigkeiten herauf. Siehe Journal Offciel de la République Française, Jahrgang 76, Seite 402 f. (Nr. 42, 20. Mai 1944).
52 Vergleiche § 93 des deutschen Strafgesetzbuches in der Fassung von 1953. Nach dieser Strafvorschrift verurteilte der Bundesgerichtshof einen parteipolitisch nicht organisierten früheren Nationalsozialisten, der 1953 - 1956 Broschüren zur Verteidigung und Verherrlichung der nationalsozialistischen Politik, vor allem auch ihrer antisemitischen Grundhaltung, verfasst und vertrieben hatte. Das Urteil lautete auf zwei Jahre Gefängnis wegen Herstellung und Verbreitung staatsgefährdender Schriften; siehe das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. September 1957, 1 StE 6/57, in {Bundesanwalt Dr. Walter Wagner (Hg.):} Hochverrat und Staatsgefährdung. Urteile des Bundesgerichtshofes, Band II, Karlsruhe, 1958, S. 159-185. In einem stabilen verfassungsmäßigen Regime wäre man geneigt, solche Auslassungen und Publikationen, namentlich wenn sie von isolierten Einzelpersonen ausgehen, als den Preis anzusehen, den man bedauerlicherweise für die Freiheit der Meinungsäußerung zu zahlen hätte. Die deutsche Empfindlichkeit gegenüber mündlichen und schriftlichen Äußerungen extrem antisemitischer Natur, besonders wenn sie die Untaten des Hitler-Regimes preisen, ist die Folge der jüngsten geschichtlichen Erfahrung; ihr entspringt die gegenwärtig fast einhellige Entschlossenheit, jeden Wiederholungsversuch mit allen Mitteln zu verhindern.
53 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode 1953, Stenographische Berichte, Band 35, S. 10910-10920 (191. Sitzung vom 7. Februar 1957).
54 Siehe den Wortlaut des Einstellungsbeschlusses des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Frankfurt vom 20. Mai 1959: »Vom Recht auf eigene Überzeugung«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, D-Ausg., Nr. 120 vom 27. Mai 1959, S. 9, Sp. 1-4.
55 Bundesgesetzblatt, 1960, Teil 1, S. 478.
56 Verordnung Nr. 58-1298 vom 23. Dezember 1958, Journal Officiel de la République Française, Jahrgang 90, S. 11761 (Nr. 300, 24. Dezember 1958).
57 Maurice Garçon: »De l‘lnfaillibilité de la Justice«, in: Le Monde, Jahrgang 11, Nr. 532, Sélection Hebdomadaire, 25. - 31. Dezember 1958, S. 5.
58 Eine Übersicht über diese französische Ad-hoc-Gesetzgebung gibt Paul Thibaud: »Les Attein tes à la Sûreté des Français«, in: Esprit, Jahrgang 29, S. 353-380 (Nr. 293, März 1961).
59 Nach einigen Schwankungen – wie zum Beispiel in den Fällen Watkins v. United States, United States Reports, Volume 354 (1957), S. 178-233, und Sweezy v. New Hampshire, ebda
60 Die umfangreiche Literatur über die amerikanische Rechtsprechungspraxis lässt sich an Hand der ausführlichen Kommentare und bibliographischen Nachweise bei Thomas I. Emerson und David Haber (Hg.): Political and Civil Rights in the United States. A Collection of Legal and Related Materials, 2. Auflage, Buffalo, New York, 1958, verfolgen.
Kapitel III
Der politische Prozess
»Laßt uns die Übel der Stadt auf den Mönch abwälzen und sie damit alle loswerden!«
Bernardo Rucellai über Savonarola
Dies Kapitel fängt mit einer Klarstellung an. Gibt es einen Unterschied zwischen der gerichtlichen Erledigung gewöhnlicher Strafrechtsfälle und dem politischen Prozess? Und wenn ja, was ist es, wodurch sich die beiden Arten von Prozessen voneinander unterscheiden? Zunächst wird eine Antwort auf diese Fragen skizziert.
Sodann werden an Hand von drei historischen Episoden die Hauptkategorien der politischen Prozesse veranschaulicht. Im Vordergrund stehen: 1. Der Prozess, in dem eine mit politischer Zielsetzung verübte kriminelle Tat abgeurteilt und die Verurteilung des Täters um bestimmter politischer Vorteile willen angestrebt wird; 2. Der klassische politische Prozess, mit dem das herrschende Regime das politische Verhalten seiner Widersacher als kriminell zu brandmarken trachtet, um sie auf diese Weise von der politischen Bühne zu entfernen; schließlich 3. Der gleichsam abgeleitete politische Prozess, in dem zur Diskreditierung des politischen Gegners Delikte eigener Art herhalten müssen: Beleidigung oder Verleumdung, Meineid, Ungebühr vor Gericht.
Aus der oft behaupteten Notwendigkeit verschärften Schutzes der Staatssicherheit und aus der zunehmenden Vernachlässigung der im 19. Jahrhundert für die Rechtsprechung maßgeblichen Unterscheidung der inneren und der äußeren Bedrohung des Staates sind mehrere neue Typen von Delikten hervorgegangen. Die Probleme, die daraus entstehen, werden anschließend an einigen Gerichtsfällen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland illustriert.
Aus früheren Zeiten kennen wir bereits den politischen Prozess, der außerhalb der Domäne des Rechtsstaatlichen liegt: Seine traditionellen Kennzeichen sind die Missachtung der prozessualen Rechte des Angeklagten und der Versuch, tatsächlich Geschehenes so umzubiegen oder zu entstellen, dass es sich propagandistisch ausschlachten lässt. Es wird gezeigt werden, dass sich auch noch dieser Prozess von einigen uns aus der Gegenwart vertrauten Varianten des bis ins Extrem verfeinerten Schauprozesses sehr erheblich unterscheidet.
Im modernen Schauprozess wird das, was wirklich vorgefallen ist, im günstigsten Fall als »Aufhänger« benutzt: Um das verzerrte Faktische rankt sich eine allumfassende didaktische Sage. Wie das gemacht wird, soll einmal an den aufgegebenen Plänen des Dritten Reiches für die Inszenierung eines Prozesses Grünspan, zum andern an der Verwendung der äußeren Form des Gerichtsverfahrens für die Konstruktion einer erdichteten Ersatzwirklichkeit dargetan werden, wie sie im Sowjetbereich vor allem in der Ära Stalin nach den jeweiligen Bedürfnissen des Regimes praktiziert wurde.
Zum Schluss muss die Frage aufgeworfen werden, wovon die Aussichten eines Regimes abhängen, mit einem Prozess politische Wirkungen zu erzielen, die über die Beseitigung des Gegners hinausgehen. Damit hängt die Frage zusammen, in welchem Maße ein politischer Prozess dazu beitragen kann, dem allgemeinen Bewusstsein eine bestimmte Interpretation der Vergangenheit