Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Zusammenhalt ihrer Mitgliedschaft zu festigen. Das erhöht sowohl ihr eigenes Prestige als auch das Prestige der Massen, in deren Namen sie sprechen. Nationalstolz und nationale Bestrebungen dienen als bequemer Hebel zur Einflussnahme auf das Regierungspersonal und auf die ständig wachsenden Sozialdienste, die der Staat organisiert.35
Internationale Vereinbarungen über die Herstellung, Normung und Verteilung zahlreicher Waren – von Rüstungen bis zur Unterhaltung – können die Substanz des nationalen Lebens, namentlich in kleineren Ländern von minderem politischem Rang, zunehmend verarmen lassen. Aber internationale Einflüsse erreichen den letzten Verbraucher und Steuerzahler nur über das nationale Medium. Als Antrieb zu politischem Handeln bedeutet der Patriotismus zwar nicht mehr übermäßig viel, aber er erweist sich immer noch als taugliches Fundament für die Gesetzgebung zum Schutze des Staates. Gerade im Wettstreit mit den neuen staatlichen Kristallisationskernen von Treuebindungen und Treueverpflichtungen hat diese einzelstaatliche Gesetzgebung ihre Reichweite sprunghaft und ruckweise ausgedehnt. (Bindungen an die katholische Kirche, die in früheren Zeiten schwerer wogen als patriotische Pflichten, haben einen wesentlichen Wandel durchgemacht: Der übernationale Geltungsanspruch der Kirche ist insofern schwächer geworden, als ihre nationale Hierarchie in der Gegenwart entscheidend daran interessiert ist, sich den in der Demokratie geltenden Bedingungen organisierten Handelns anzupassen; solange die Kirche im gerade herrschenden System nicht einen grundsätzlichen Gegner des Gesamtkomplexes ihrer Glaubensvorstellungen und Integrationsmittel sieht, operieren ihre nationalen Einheiten in einem Rahmen, der in vielem dem Tätigkeitsrahmen der interessenorientierten Pressionsgruppen gleicht.)
Der Schutzpanzer des Staates wird, welche Struktur das einzelne Staatsgebilde auch haben möge, immer vielschichtiger und härter. Um sich den Wandel zu vergegenwärtigen, braucht man nur den hektischen Geist der heutigen Vorkehrungen für die Staatssicherheit mit der ruhigen Gelassenheit zu vergleichen, mit der vor dem ersten Weltkrieg in Kreisen der Regierungsbürokratie über geplante, aber nie verwirklichte Kampfmaßnahmen gegen die erstarkende sozialistische Bewegung und ihre um sich greifenden Agitationskampagnen beraten wurde.36 Die erste Folge dieses Wandels ist, dass der im 19. Jahrhundert richtunggebende Unterschied in der Einstellung zur äußeren und zur inneren Staatssicherheit seine durchschlagende Wirkung verliert. Die alten traditionellen Bestimmungen, die der inneren Sicherheit des Staates galten, werden, auch wenn sie offiziell in Kraft bleiben, von einem reißenden Strom neuer Gesetze hinweggespült.
Dabei verliert sich die unterschiedliche Behandlung innerer und äußerer Gefahren. Beides verschmilzt in Begriffen wie »moralische Zersetzung« (der Armee oder des Staates) oder »Gefährdung der Unabhängigkeit« (des Staates oder Staatenbundes). Charakteristisch dafür sind beispielshalber: in Frankreich die Artikel 76 Absatz 3 (vom 9. April 1940) und 76 Absatz 3d (vom 11. März 1950) des Code Pénal, die bei der Neufassung der Sicherheitsgesetzgebung im Juni 196037 zu einem neuen Artikel 71 Absatz 4 zusammengefasst worden sind; in der Schweiz Artikel 266 des Strafgesetzbuches in der Fassung vom 5. Oktober 1950.38 In der erwähnten Neufassung der französischen Dauerbestimmungen über Verstöße gegen die Staatssicherheit (die von zahlreichen Sonderbestimmungen für die algerische Kriegssituation zu unterscheiden sind) ist der Begriff der »äußeren Sicherheit« sogar aus den Überschriften verschwunden und in einem allumfassenden Sicherheitsbegriff aufgegangen.39
Im Gefolge der neuen politischen Konstellation mit ihren neuartigen Sicherheitsvorstellungen findet ein seit langem schwelender Konflikt zwar keine geistige Lösung, aber eine gesetzgeberische Regelung. Soll der Freiheit des Individuums der größtmögliche Spielraum gewährt, sollen die Verbote und Strafen auf eindeutig definierbare Handlungen beschränkt werden, die ein fortgeschrittenes Stadium in den gewöhnlich als »Unternehmen« oder attentat gekennzeichneten Bemühungen um den gewaltsamen Sturz der politischen Ordnung anzeigen? Oder sollen bereits die frühesten Äußerungen einer feindlichen Haltung, die in sich vielleicht gar keine Folgen einschließen, im Keime erstickt werden? Einstweilen überwiegt die Neigung, schon potentiell staatsfeindliches Verhalten unter Strafe zu stellen.
Die Rechtsprechungspraxis war der gesetzgeberischen Neuerung schon lange voraus. So setzte sich in Frankreich schon in den zwanziger Jahren, wenn auch nicht auf die Dauer, eine den strafbaren Tatbestand erweiternde Auslegung des Gesetzes durch: Die Gesetze von 1883/84, die zur Bekämpfung des damaligen Anarchismus der »direkten Aktion« geschaffen und von einem wenig respektvollen Publikum »Schurkengesetze« getauft worden waren, wurden nunmehr auf kommunistische Propagandabemühungen, vor allem auf kommunistische Armeepropaganda angewandt. In Deutschland wurde dasselbe Ziel in einem viel weiteren Rahmen dadurch erreicht, dass die Gerichte dem Begriff des »Unternehmens« einen neuen Inhalt unterschoben. Schon in der Frühzeit der Weimarer Republik40 hatten die Gerichte entschieden, dass ein staatsfeindliches Unternehmen, jedenfalls ein von Kommunisten ausgehendes, strafbar sei, auch wenn eine konkrete umstürzlerische Absicht nicht bewiesen werden könne und die Erfolgsaussichten nur geringfügig seien.41 Dieselbe Methode hatte sich in das Bukett von Gesetzen gegen »Aufruhr« und »verbrecherischen Syndikalismus« eingeschlichen, die in den Jahren nach der Russischen Revolution von einzelnen USA-Gliedstaaten erlassen wurden. Viel später, in einer Welt, die nun schon unter dem Eindruck der Konsolidierung und Ausbreitung des Bolschewismus stand, wurde diese Lehre vom amerikanischen Richter Learned Hand in seine Marginalglosse zur »offensichtlichen und unmittelbaren Gefahr« von neuem aufgenommen.42
Derselbe Wandel in der Haltung zeigte sich auf einem nahe verwandten Gebiet. Von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in der glücklichen Ära des niedergehenden Absolutismus und des Aufstiegs konstitutioneller Monarchien und liberaldemokratischer Ordnungen, wurde der Unterschied zwischen politischen und gewöhnlichen Straftaten von der öffentlichen Meinung und unter ihrem Druck auch von den Organen der Staatsgewalt oft anerkannt, selten in Frage gestellt. Dass sich der Staat, so wurde argumentiert, gegen seine Feinde sichern müsse, bedeute keineswegs, dass man den erkannten Feind als ehrlosen Schuft brandmarken müsse.43 Dabei mögen gewiss psychologischer und soziologischer Optimismus und romantische Hoffnungen eine Rolle gespielt haben.44 Aber jedenfalls führte diese Haltung dort, wo sie sich durchzusetzen vermochte, dazu, dass dem politischen Delinquenten besondere Vorrechte eingeräumt wurden. Eine besondere Skala sogenannter Ersatzstrafen wurde ersonnen; bisweilen fiel sogar die Todesstrafe weg; eine besondere Form von custodia honesta, der jeder ehrenrührige Beigeschmack abging, wurde geschaffen; unter gewöhnlichen Gefängnisbedingungen wurde den »Politischen« ein Mindestmaß an Sonderbehandlung zugestanden; in der Regel behielten sie die bürgerlichen Ehrenrechte. Seit dem Ersten Weltkrieg ist diese großmütige Haltung überall im Rückgang begriffen. Die neuen gesetzlichen Bestimmungen zeigen eine starke Neigung, den politischen Täter in vieler Beziehung, außer vielleicht in Bezug auf Auslieferung, auf die Stufe des gewöhnlichen Kriminellen zu stellen.45 Hin und wieder gibt es Proteste und Zweifel, wenn die Streichung der Sondervorrechte gewichtige Bevölkerungsschichten trifft – wie zum Beispiel im Gefolge der Nachkriegsprozesse gegen Kollaborateure in verschiedenen westeuropäischen Ländern.46 Nur wenige protestierende Stimmen lassen sich indes vernehmen, wenn die Opfer kleineren und weitgehend unpopulären Gruppen am Rande der Gesellschaft angehören.47
In den demokratischen