Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Strafverfolgungen wegen Majestätsbeleidigung gab es noch in Hülle und Fülle in Ländern, an deren Spitze konstitutionelle Monarchen standen; in Deutschland allein wurden 1894 622 solche Fälle, 1904 noch 275 Fälle registriert.30 Das ergab sich aus der Struktur der Staatsform. Angriffe auf Kabinette, die dem Parlament nicht verantwortlich waren und nicht den Willen einer Parlamentsmehrheit repräsentierten, trafen automatisch die Person oder Institution, der es oblag, das Kabinett einzusetzen. Und jedes Mal wenn es vor Gericht verteidigt werden musste, wurde das Prestige der Monarchie von neuem heftig angenagt. Es machte nicht viel aus, dass der Wahrheitsbeweis für die beleidigenden Äußerungen nicht angetreten werden durfte31 oder dass die Aburteilung der Majestätsbeleidiger durch Geschworenengerichte mit allen Mitteln verhindert wurde.32 Mochte das Gericht aussehen, wie es wollte: Die Öffentlichkeit der Verhandlungen gestattete eine weithin publizierte Kritik an der Regierung. Von der Parlamentstribüne aus hätte sie nicht wirksamer vorgetragen werden können.
Angesichts der rückläufigen Welle der Verbrechen gegen den Staat mochte die Flut der Strafverfolgungen wegen Beleidigung des gekrönten Herrschers wie eine Anomalie anmuten. Was sich in ihr widerspiegelte, war die charakteristische Tatsache, dass die politische Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Mängel und Gebrechen der mitteleuropäischen Verfassungssysteme mit Sanftmut, ja fast mit verspielter Duldsamkeit reagierte.
3. Staatsschutz in der Gegenwartsgesellschaft
Im ganzen gesehen hat das System des eingeschränkten, unentschlossenen und von Gewissensbedenken belasteten Staatschutzes, wie es sich im 19. Jahrhundert kundgetan hatte, den ersten Weltkrieg, die symbolische Grenzscheide zwischen dem sterbenden Zeitalter des konstitutionellen Liberalismus und der turbulenten neuen Epoche der Massendemokratie und der totalitären Herrschaft, nicht überlebt. Die Revolution in Russland hat – anders als ihre französische Vorgängerin im 18. Jahrhundert – nicht eine fünfzigjährige Ära der Konsolidierung, Restauration und Befriedung eingeläutet. Von ihr und ihren Ausläufern wurde – mochte sie siegen oder Niederlagen erleiden, mit Unbehagen geduldet oder von den wütenden Gegenschlägen des Faschismus und des Nationalsozialismus getroffen werden – allen zum Schutz der bestehenden Staatsgebilde unternommenen gesetzgeberischen Bemühungen des Zeitalters ein unauslöschlicher Stempel aufgeprägt. Die Staatsschutzgesetzgebung der Gegenwart weist aber auch andere, nicht minder kennzeichnende Geburtsmale auf: Unverkennbar sind die Spuren, die die wechselvollen Schicksale des nationalstaatlichen Gebildes, sein endgültiges Reifen, sein Niedergang und seine fortschreitende Zersetzung, hinterlassen haben.
Was die Staatsräson des 18. Jahrhunderts zu einer wirksamen Maxime politischen Handelns hatte werden lassen, war die allgemein akzeptierte Daseinsvoraussetzung, wonach die Bevölkerung jedes einzelnen Staates von der Bevölkerung aller anderen Staaten nahezu völlig abgeriegelt war und in diesem Zustand auch belassen werden sollte. Für die aristokratischen Regierungen, die sich in ihren Herrschaftsgebieten sicher fühlten, waren die zwischenstaatlichen Beziehungen eine berechenbare Sache, die ihrem Wesen nach außerhalb der Reichweite innerer Konflikte lag; es bestand nicht die Gefahr, dass das Volk in die Jagdgehege der Regierenden einbrechen könnte.33 Die Ausweitung des Verkehrs und der Verbindungen über die Staatsgrenzen hinweg, das eigentliche Wahrzeichen des industriellen Zeitalters, kündigte einen Wandel schon zu der Zeit an, da die Nationalstaaten entstanden und sich konsolidierten. Unmittelbar berührte das allerdings noch nicht die Bindung des Staatsbürgers an die Nationalgebilde, die aus der mühevollen Arbeit der Bürokratie, den ideologischen und materiellen Bedürfnissen der Mittelschichten und den Sehnsüchten und Hoffnungen der bis dahin in das staatliche Dasein nicht eingegliederten Massen hervorgegangen waren. Wirkliche Zweifel an der Existenzberechtigung des Nationalstaats brachten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Jünger Marx’ und Bakunins auf; dass ihre drohenden Gesten nicht sehr ernst zu nehmen waren, zeigte dann später das klägliche Versagen der Zweiten Internationale.
Der erste Weltkrieg bezeichnete den Gipfelpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung. Seit den ersten Nachkriegsjahren ist der Weg des Nationalstaats mit Zweifeln und Ängsten gepflastert. Die neue Welt, die keine Entfernungen kennt, erlaubt es weltweiten Interessengruppierungen und politischen Bewegungen, sich dem Wirkungsbereich der nationalen Rechtsordnung zu entziehen. Indes höhlen die organisierten Interessen die nationalen Bindungen nur in einer begrenzten, hauptsächlich wirtschaftlichen Ebene aus; von papiernen Projekten abgesehen, haben sie davon Abstand genommen, neue, überstaatliche Treueverpflichtungen zu begründen. Die internationale Partei oder die internationale Bewegung streckt ihre Arme nach weiter gespannten Zielen aus.
Das faschistische Eroberungsprogramm mit dem Aushängeschild einer »Neuen Ordnung«, das einen zugegebenermaßen ethnozentrischen Imperialismus kaum verhüllte, hat die Dämme und Deiche des Nationalstaates und seinen Monopolanspruch auf patriotische Treue so beschädigt, dass sie nicht wieder instand gesetzt werden können; die staatlich begrenzte »Nation« erlag der biologischen »Rasse« mit ihren im operativen Interesse einer Weltreichsstrategie je nach Bedarf neu zu ziehenden Demarkationslinien. Mit noch größerer zerstörerischer Gewalt hat der Universalitätsanspruch der Kommunisten die souveräne Hoheit des Nationalstaats getroffen.
Bewegungen solcher Art erheben, sobald sie an der Macht sind, Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Und obgleich sie darauf aus sind, die einengenden Eigentümlichkeiten des Nationalstaates zu zerschlagen, hat ihr eigener Expansionsdrang mächtige Gegenantriebe innerhalb und außerhalb ihrer Herrschaftssphäre hervorgebracht, die der Anhänglichkeit der Staatsbürger an ihre jeweiligen Staatsgebilde neue Kraft geben, ganz gleich, ob diese Staatsgebilde dem Begriff »Nation« im Sinne der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts Genüge tun oder nicht. Das Staatsgebilde als solches ist heute die Verkörperung des Nationalen, der das Individuum patriotische Hingabe schuldet; das gilt für das totalitäre Imperium, in dem eine Herrennation über eine Anzahl untergeordneter Nationen herrscht, ebenso wie für einen aus vielen Nationen bestehenden Bundesstaat oder für überlebende Exemplare der alten Nationalstaatsgattung.
Einförmig ist das Bild allerdings ganz und gar nicht. Je größer der Bereich der noch verbleibenden nationalen Aktionsfreiheit, um so größeren Einfluss behalten nationale Bindungen auf das Denken und auf einzelne politische Bewegungen, umso weniger schrumpft das Nationale zum traditionellen Hilfsmittel für den territorialen Umbau von Staatsgebilden zusammen. Aber auch dort, wo – wie etwa in Westeuropa – nationale Bindungen an Bedeutung verlieren, weil neue Mittelpunkte überstaatlicher Zusammenfassung bestimmter gesellschaftlicher Lebensbereiche entstehen und die Interessenrichtung neue Brennpunkte bekommt, sind neue Symbole noch lange nicht in vollem Umfang an die Stelle der alten nationalen getreten.34 Die Folge ist eine eigenartige Übergangsperiode, die sowohl den nach festen neuen Bindungen Suchenden als auch denen, die die zerfaserten alten zusammenflicken und verstärken sollen, viel zumutet.
Obschon der Staat nach wie vor im Mittelpunkt des staatsbürgerlichen Bezugssystems steht, überschreiten heute einzelne Staatsbürger in stets wachsender Zahl – sei es in Geschäften, sei es aus Familiengründen, sei es als Touristen – die Landesgrenzen; diplomatische, wirtschaftliche und technische Agenten der internationalen Zusammenarbeit oder des internationalen Umsturzes müssen ohnehin im überstaatlichen Rahmen operieren. Doch sind das kleine Gruppen. Überdies werden die international tätigen Personen dem übernationalen Bereich oft nicht mit dem Auftrag zugeteilt, neue, internationale Bindungen zu begründen, sondern viel eher mit dem eindeutigen Auftrag, die alten nationalen Treueverpflichtungen zum Ausdruck zu bringen, zu vertreten oder zu propagieren. Ihrerseits haben die Volksmassen, sofern sie überhaupt in die Sphäre politischen Handelns hineingezogen werden, auf Umwegen stärkere patriotische Zugehörigkeitsgefühle entwickelt. Ihre Organisationen identifizieren sich mit der nationalen Sache und verschaffen sich damit eine