Politische Justiz. Otto Kirchheimer

Politische Justiz - Otto Kirchheimer


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      Angesichts der rückläufigen Welle der Verbrechen gegen den Staat mochte die Flut der Strafverfolgungen wegen Beleidigung des gekrönten Herrschers wie eine Anomalie anmuten. Was sich in ihr widerspiegelte, war die charakteristische Tatsache, dass die politische Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die Mängel und Gebrechen der mitteleuropäischen Verfassungssysteme mit Sanftmut, ja fast mit verspielter Duldsamkeit reagierte.

       3. Staatsschutz in der Gegenwartsgesellschaft

      Im ganzen gesehen hat das System des eingeschränkten, unentschlossenen und von Gewissensbedenken belasteten Staatschutzes, wie es sich im 19. Jahrhundert kundgetan hatte, den ersten Weltkrieg, die symbolische Grenzscheide zwischen dem sterbenden Zeitalter des konstitutionellen Liberalismus und der turbulenten neuen Epoche der Massendemokratie und der totalitären Herrschaft, nicht überlebt. Die Revolution in Russland hat – anders als ihre französische Vorgängerin im 18. Jahrhundert – nicht eine fünfzigjährige Ära der Konsolidierung, Restauration und Befriedung eingeläutet. Von ihr und ihren Ausläufern wurde – mochte sie siegen oder Niederlagen erleiden, mit Unbehagen geduldet oder von den wütenden Gegenschlägen des Faschismus und des Nationalsozialismus getroffen werden – allen zum Schutz der bestehenden Staatsgebilde unternommenen gesetzgeberischen Bemühungen des Zeitalters ein unauslöschlicher Stempel aufgeprägt. Die Staatsschutzgesetzgebung der Gegenwart weist aber auch andere, nicht minder kennzeichnende Geburtsmale auf: Unverkennbar sind die Spuren, die die wechselvollen Schicksale des nationalstaatlichen Gebildes, sein endgültiges Reifen, sein Niedergang und seine fortschreitende Zersetzung, hinterlassen haben.

      Der erste Weltkrieg bezeichnete den Gipfelpunkt der nationalstaatlichen Entwicklung. Seit den ersten Nachkriegsjahren ist der Weg des Nationalstaats mit Zweifeln und Ängsten gepflastert. Die neue Welt, die keine Entfernungen kennt, erlaubt es weltweiten Interessengruppierungen und politischen Bewegungen, sich dem Wirkungsbereich der nationalen Rechtsordnung zu entziehen. Indes höhlen die organisierten Interessen die nationalen Bindungen nur in einer begrenzten, hauptsächlich wirtschaftlichen Ebene aus; von papiernen Projekten abgesehen, haben sie davon Abstand genommen, neue, überstaatliche Treueverpflichtungen zu begründen. Die internationale Partei oder die internationale Bewegung streckt ihre Arme nach weiter gespannten Zielen aus.

      Das faschistische Eroberungsprogramm mit dem Aushängeschild einer »Neuen Ordnung«, das einen zugegebenermaßen ethnozentrischen Imperialismus kaum verhüllte, hat die Dämme und Deiche des Nationalstaates und seinen Monopolanspruch auf patriotische Treue so beschädigt, dass sie nicht wieder instand gesetzt werden können; die staatlich begrenzte »Nation« erlag der biologischen »Rasse« mit ihren im operativen Interesse einer Weltreichsstrategie je nach Bedarf neu zu ziehenden Demarkationslinien. Mit noch größerer zerstörerischer Gewalt hat der Universalitätsanspruch der Kommunisten die souveräne Hoheit des Nationalstaats getroffen.

      Bewegungen solcher Art erheben, sobald sie an der Macht sind, Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam. Und obgleich sie darauf aus sind, die einengenden Eigentümlichkeiten des Nationalstaates zu zerschlagen, hat ihr eigener Expansionsdrang mächtige Gegenantriebe innerhalb und außerhalb ihrer Herrschaftssphäre hervorgebracht, die der Anhänglichkeit der Staatsbürger an ihre jeweiligen Staatsgebilde neue Kraft geben, ganz gleich, ob diese Staatsgebilde dem Begriff »Nation« im Sinne der politischen Philosophie des 19. Jahrhunderts Genüge tun oder nicht. Das Staatsgebilde als solches ist heute die Verkörperung des Nationalen, der das Individuum patriotische Hingabe schuldet; das gilt für das totalitäre Imperium, in dem eine Herrennation über eine Anzahl untergeordneter Nationen herrscht, ebenso wie für einen aus vielen Nationen bestehenden Bundesstaat oder für überlebende Exemplare der alten Nationalstaatsgattung.


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