Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Lebensdauer war, lag der Bestrafung von Verrat und Aufruhr eine unvorstellbar weite Definition der Delikte zugrunde. Überwiegend sah indes die Praxis anders aus: Rechtsdenken und Rechtsprechung der angelsächsischen Länder konzentrierten sich in den hundert Jahren von Waterloo bis zur Marne-Schlacht auf ergiebigere und verheißungsvollere Gebiete.19
Auf dem europäischen Kontinent richtete das juristische Denken des 19. Jahrhunderts seine Energien auf die Demontage der traditionellen perduellio- und maiestas-Vorstellungen. Unter dem mächtigen Einfluss der Aufklärungsströmungen bemühte man sich um die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen im Komplex der »Staatsverbrechen« enthaltenen Bereiche, während vordem die Aufzählung der verschiedenen möglichen Situationen eher dazu gedient hatte, die weite Ausdehnung dieser Deliktsphäre zu veranschaulichen als sie zu begrenzen.20 Nunmehr neigte man immer mehr dazu, den gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, Verbrechen also gegen die innere Sicherheit des Staates,21 von der Gefährdung seiner äußeren Sicherheit, von der Beschädigung seines militärischen oder diplomatischen Schutzpanzers zu unterscheiden. Außerdem wurden diese beiden Typen von Delikten vom verbleibenden Inhalt des maiestas-Begriffes abgegrenzt, der für beleidigende Angriffe oder tätliche Anschläge auf die Person des Monarchen (manchmal auch auf Mitglieder des Herrscherhauses oder Regierungsangehörige) beibehalten wurde.
Eindeutig kam die Trennung der Verbrechen gegen den Fürsten von anderen politischen Delikten, die sich bereits in Preußens Allgemeinem Landrecht von 1786 (1794 in Kraft gesetzt) abgezeichnet hatte, im Code Napoléon zum Ausdruck, der der revolutionären Gesetzgebung von 1791 den letzten Schliff gab. Eine weitere Verfeinerung fand das neue Prinzip in den Schriften Anselm Feuerbachs. Auf Bemühungen um die gesonderte Klassifizierung der verschiedenen Kategorien politischer Delikte folgten schließlich Vorstöße gegen die wiederholten Versuche der Regierenden, die Gerichte für den Abwehrkampf gegen den Vormarsch »umstürzlerischer« Ideen zu mobilisieren. In seinen vielgelesenen Schriften Des Conspirations et de la Justice politique (1821) und De la Peine de Mort en Mutière politique (1822) warnte namentlich François Guizot, Historiker, Staatsbeamter und später Minister Ludwig Philipps, die Inhaber der Regierungsgewalt davor, die eigene Führungsaufgabe mit der ganz andersartigen Aufgabe der Gerichte zu vermengen, die darin bestehen sollte, konkrete Beschuldigungen aus Anlass strafbarer Handlungen – nicht aus Anlass anstößiger Meinungen – zu prüfen. Zunehmend regelte die rechtsstaatliche Ordnung die Ausübung der politischen Macht, und als strafbar wurden vorwiegend nur noch Handlungen angesehen, die einen gewaltsamen Angriff auf die Gesamtstruktur dieser Ordnung darstellten.
Unter einer Voraussetzung wird somit die Umgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung zum legitimen Vorhaben: Zur Erreichung des angestrebten Ziels dürfen ausschließlich legale Mittel angewandt werden. Schon im 19. Jahrhundert wurde politischen Gruppierungen in größerem Maße erlaubt, sich auf eine totale Umwandlung der bestehenden Ordnung zu orientieren. Solange sie sich an die vorgeschriebenen Mittel der Neugestaltung hielten und sich nicht in den Bannkreis der Gewalt hineinziehen ließen, wurde der Ummünzung der Gedanken in Propaganda ein gewisses Maß an Freiheit gewährt. Die neue Art der Behandlung politischer Verbrechen wurzelte in der Vorstellung von der Verfassung als Vertrag, wie sie sich über Kant und Rousseau bis Feuerbach fortgepflanzt hatte; sie wurde kaum angefochten.
In dem Maße, wie die Regierungsgeschäfte zur legitimen Angelegenheit der Allgemeinheit werden, fangen die Gerichte an, einen Unterschied zwischen erlaubten Methoden der Opposition und strafbaren, an Gewalt grenzenden Handlungen und Äußerungen zu machen. Sogar ein gegen die Sache der Angeklagten besonders voreingenommener Richter wie der Irenfeind Pennefather, unter dessen Vorsitz 1843 in Irland Daniel O’Connell und Genossen unter der Beschuldigung der Teilnahme an einer aufrührerischen Verbindung abgeurteilt wurden, sprach den Rebellierenden nicht grundsätzlich das Recht ab, radikale politische Neugestaltungsideen zu erörtern und sich in Eingaben an Königin und Parlament für sie einzusetzen;22 und im englischen Oberhaus wurde die Verurteilung O’Connells von den richterlichen Mitgliedern mit einer Mehrheit von drei liberalen gegen zwei konservative Stimmen aufgehoben.23 Was meistens umstritten bleibt, ist die Grenze zwischen legaler Propaganda und nicht-gewaltsamen Bemühungen um die Errichtung eines neuen Regierungssystems, mit denen die bestehende Ordnung so unter Druck gesetzt wird, dass sie im Endeffekt zusammenstürzen kann. Diese Grenze war schon bei der Chartistenpropaganda fraglich. Anders als unter den irischen Rebellen ließ sich unter der bunt zusammen gewürfelten Menge der Chartisten keine strenge Disziplin durchsetzen, und die Vieldeutigkeit ihres Programms, die einerseits auf geistige Konfusion, anderseits auf taktische Entscheidung zurückging,24 kam den Angeklagten auch vor Gericht nicht zustatten.25 Blickt man allerdings auf die Dinge von der Warte des 20. Jahrhunderts aus zurück, so tritt besonders anschaulich die nachsichtige Geduld hervor, mit der die englische Regierung die Chartisten mit ihrer Agitation und den daraus erwachsenden Unruhen gewähren ließ.26 Die im 19. Jahrhundert gezogene Toleranzgrenze mutet den heutigen Beobachter unwahrscheinlich großzügig an.
Viel ernster wurde der als Bedrohung der äußeren Sicherheit des Staates angesehene Verrat genommen. Sofern die Schuldigen fremde Staatsangehörige waren, wurde er oft, wenn auch nicht durchgängig, als Spionage bezeichnet und behandelt. Landesverrat in diesem Sinne traf nicht eine bestimmte verfassungsmäßige Ordnung, deren Umgestaltung bei der nächsten Wendung des politischen Geschicks oder mit dem Anbruch eines neuen Stadiums der gesellschaftlichen Entwicklung fällig sein mochte. Landesverrat bedrohte die Existenz des politischen Gesamtgebildes, nicht die vergängliche und wandelbare Form des Staatswesens, sondern den Nationalstaat selbst, und unterlag entsprechend schwerer Bestrafung.27
Seit sich der Nationalstaat als die endgültige Form der politischen Organisation der Gesellschaft durchgesetzt hatte, wurde Einvernehmen mit dem Feind mit den Merkmalen der schlimmsten aller Todsünden ausgestattet, wie sich beispielhaft in der Dreyfus-Affäre gezeigt hat. Umgekehrt wurden Politiker wie Boulanger oder Déroulède, die ja nur Komplotte schmiedeten, um sich in den Besitz der Macht zu setzen, eher als Gestalten aus einer komischen Oper behandelt. So wurde Déroulède, damals Führer der rechtsradikalen Patriotenliga, nach seinem missglückten Versuch von 1899, den General Roget zum Marsch auf den Elysée-Palast zu bewegen, lediglich eines Vergehens angeklagt und dementsprechend von einem Schwurgericht abgeurteilt. Vergebens verlangte er, wegen versuchten Umsturzes vor die Haute Cour gestellt zu werden. Erst nachdem er von den Geschworenen freigesprochen worden war, versuchte die Regierung, die Haute Cour für zuständig zu erklären, hatte jedoch damit keinen Erfolg.28 Prinzipiell hatten sich im 19. Jahrhundert der Liberalismus und der Nationalismus als Partner zusammengefunden und als einzig denkbare Daseinsform des politischen Gebildes den nach außen abgegrenzten Nationalstaat aus der Taufe gehoben. Damit war aus der Freiheit eine eingehegte Bahn geworden, auf der man sich innerhalb der Schranken der nationalen Ordnung zu bewegen hatte.
Strafbestimmungen gegen die Verunglimpfung des gekrönten Herrschers wurden beibehalten oder durch neue Bestimmungen zum Schutze des ungekrönten Staatsoberhauptes ersetzt. Jedoch galt der Schutz jetzt mehr der öffentlichen Funktion als der Person des Herrschers; das Gesetz behütete die personifizierte Staatsautorität, nicht mehr das symbolische Bild einer von Vertretern der göttlichen Macht gesalbten Majestät.29 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfuhr dieser weniger bedeutende Teil des Schutzpanzers der Staatsgewalt häufigere und heftigere Angriffe als alle anderen Bestandteile der staatlichen Rüstung. Da die Institution,