Politische Justiz. Otto Kirchheimer
Die erste Welle überzog Westeuropa am Vorabend des zweiten Weltkrieges und in seinen Anfangsstadien. Die zweite folgte dem Nachkriegsansturm der kommunistischen Expansion; sie nahm ihre endgültige Gestalt in den fünfziger Jahren an und ergriff vor allem die Länder, die vor Beginn der kommunistischen Offensive im Herrschaftsbereich der faschistischen Mächte oder in seiner Nähe gelegen hatten. Eins ist all diesen gesetzgeberischen Neuerungen gemeinsam: Sie beschränken strafbare Handlungen nicht auf die direkte Beteiligung an Bemühungen zum gewaltsamen Sturz der bestehenden Staatsordnung. Indem sie äußere und innere Sicherheit auf einen gemeinsamen Nenner bringen, wollen sie die politische Ordnung vor jeder in der Endwirkung auf eine Revolution gerichteten geistigen, propagandistischen und namentlich organisatorischen Aktivität bewahren.48 Wenn die Gerichte prüfen, wie sich die angewandten Mittel zum gewollten Zweck verhalten, brauchen sie nun nicht mehr die Größe der Gefährdung des Staatsgebildes zu messen oder die Tragweite der den Angeklagten zur Last gelegten Handlungen zu untersuchen. Solchen Überlegungen scheint deswegen keine große Bedeutung mehr zuzukommen, weil die zentrale und überragende Gefahr darin gesehen wird, dass es angesichts der spezifischen Funktionsweise der Demokratie nicht möglich sei, die politischen Gegner daran zu hindern, von den demokratischen Rechten und Freiheiten zur Zerstörung von Recht und Freiheit Gebrauch zu machen.
Eben deswegen vermögen einschränkende Kriterien die Unbestimmtheit des neuen Umsturzbegriffes nicht zu korrigieren; eben deswegen wird der Gesamthaltung der angeschuldigten Gruppierung größeres Gewicht beigelegt als den tatsächlichen, mitunter belanglosen Erscheinungsformen eines Handelns, von dem angenommen wird, dass es revolutionär sei. Gelegentlich wird der Versuch gemacht, die Grenzen zwischen loyaler und staatsfeindlicher Opposition genau festzulegen. Das unternimmt zum Beispiel der neue § 88 Absatz 2 des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik, indem er dem politischen Charakter dessen, was als »Verfassungsverrat« angesehen werden soll, inhaltliche Bestimmungen zu geben sucht. Auf Grund dieser Bestimmungen wurde schon vor dem Verbot der Kommunistischen Partei die Organisation zentral gelenkter Kampagnen für eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für ein frühes Ableben des Regimes als Gründung und Förderung einer gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Vereinigung unter Strafe gestellt.49 Nebenbei machen es die neuen Strafvorschriften unnötig, den Begriff des »hochverräterischen Unternehmens« erweiternd auszulegen. Da der Gesetzgeber einen vollgültigen Ersatz geliefert hat, kann das Gericht jetzt – ein Pyrrhus-Sieg für die Verteidigung – zugeben, dass der Tatbestand eines »bestimmten hochverräterischen Unternehmens« an einen »zeitlich und gegenständlich bestimmten Plan« gebunden sein und mehr umfassen muss als bloß regimefeindliche Propaganda.50 Zu den konkretisierten Bestimmungen über Verfassungsverrat kommen indes nunmehr auch detaillierte Bestimmungen darüber hinzu, was etwaige Propagandabeziehungen zwischen Einzelpersonen und Gruppen im Inland und Personen oder Institutionen im Ausland gesetzwidrig und strafbar macht.
Da die eigentliche Substanz der staatlichen Autorität ständigen Angriffen ausgesetzt ist, müssen die Träger dieser Autorität über den Schutz der Staatsinstitutionen und des entsprechenden Dekorums wachen. Eine Fülle neuer Bestimmungen bekämpft die Respektlosen, die Übelwollenden, die Widersacher, die Lügen verbreiten. Die zuletzt genannte Spezies kommt nicht selten vor; anstatt die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist, und negative Interpretationen der Zustände auszuschlachten, versorgen die der bestehenden Ordnung grundsätzlich feindlichen Gruppen ihre Kundschaft mit einer radikal verzerrten Version der Wirklichkeit: Entweder wissen sie’s nicht besser – oder es kommt ihnen nur auf die vorausberechnete Wirkung an. Dagegen wehren sich die Hüter des Bestehenden. Wer sich an der Spitze der Staatsgewalt oder in ihrer Nähe befindet, wird durch einen höheren Straftarif geschützt, obschon die Vergeltung durch die dem Übeltäter belassene Möglichkeit eingeschränkt sein kann, seine Behauptungen zu beweisen.51 Strafbar ist schon die Beschimpfung oder Verächtlichung der verfassungsmäßigen Ordnung oder ihrer Symbole und Träger als gewollter Ausdruck einer feindseligen Einstellung zur Staatsautorität. Wird die publizistische Herabsetzung bestehender Institutionen als staats- oder verfassungsgefährdend angesehen, so können daraus strafverschärfende Wirkungen entstehen.52
Die aus feindseliger Absicht erfolgende Verbreitung tatsächlicher Behauptungen kann auch dann verderblich sein, wenn sich die Behauptungen als erlogen erweisen lassen; wird aber das Behauptete als wahr erhärtet, so entsteht daraus leicht gefährlicher Sprengstoff von hoher Brisanz. Üble Nachrede, die das Prestige der Machthaber vernichten soll, verkleinert oft den Abstand zwischen den machtlosen Verächtern der Staatsgewalt und denen, die ihnen als Zielscheibe dienen. Zwischen diesen beiden Polen ist das Feld echter politischer Kritik von Wolken verhängt; sie lassen die Lichtstrahlen nicht durch, die Tatsachen von Phantasien und Wünschen trennen könnten. Was da zusammenfließt, auseinanderzuhalten und den Beitrag der böswilligen Verleumdung auszuscheiden, ist nicht einfach. Manche neuen Gesetze vernachlässigen diese Schwierigkeit und zerren legitime Kritik in den Bereich strafbarer Handlungen. So sichert der neue § 109d des westdeutschen Strafgesetzbuches der Bundeswehr einen besonderen Schutz vor Verleumdungen zu: »Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art, deren Verbreitung geeignet ist, die Tätigkeit der Bundeswehr zu stören, wider besseres Wissen zum Zwecke der Verbreitung aufstellt«, setzt sich einer Gefängnisstrafe aus. Gefängnis droht auch dem, »der solche Behauptungen in Kenntnis ihrer Unwahrheit verbreitet, um die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgabe der Landesverteidigung zu behindern.«
Als Kritiker dieser Bestimmung, ihrer Dehnbarkeit und Unbestimmtheit war im Bundestag der sozialdemokratische Sprecher Adolf Arndt aufgetreten, selbst Anwalt, vor dem Richter und Staatsanwalt.53 Ihre Anwendung hätte beinahe zu einem wütenden Zusammenstoß zwischen gläubiger pazifistischer Gesinnung und der offiziellen Regierungshaltung geführt, hätte nicht ein weiser Staatsanwalt das eingeleitete Strafverfahren gegen den Beleidiger der Bundeswehr niedergeschlagen. Denn der Beleidiger war Kirchenpräsident Martin Niemöller, der die Ausbildung zum Soldaten im modernen Heer der Ausbildung von »Kommandos« im letzten Krieg gleichgestellt und als »Hohe Schule für Berufsverbrecher« bezeichnet hatte. Die Staatsanwaltschaft umging die Paragraphenfalle, indem sie feststellte, Niemöller habe »keine unwahren oder gröblich entstellten Behauptungen tatsächlicher Art aufgestellt«, sondern »ein aus den Tatsachenbehauptungen bezüglich der Massenvernichtungswaffen gefolgertes Werturteil« abgegeben, und eine Verurteilung wegen Beleidigung kam nicht in Frage, weil Niemöller niemanden hatte beleidigen wollen und die Staatsanwaltschaft nicht daran zweifelte, dass er seine Äußerungen in Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht hatte.54
Mit der Verschärfung der Beleidigungs- und Verleumdungsbestimmungen ist die Fülle der neuen politischen Strafvorschriften nicht erschöpft. Eins der neuesten deutschen Gesetzeswerke, das Sechste Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. Juni 1960, sieht in der Aufstachelung »zum Haß gegen Teile der Bevölkerung« einen strafbaren Angriff auf »die Menschenwürde anderer.« Dasselbe Gesetz betritt das gefahrenreiche Terrain des Vorgehens gegen Symbole verbotener Organisationen in der Öffentlichkeit oder in Kommunikationsmedien.55 Zu beachten sind auch die Strafbestimmungen des neuen Artikels 226 des französischen Code Pénal vom Dezember 1958; hier wird den Gerichten der weitestgehende Schutz gegen jede nicht rein technische Kritik gewährt, sofern sie »unter Umständen, die geeignet sind, der Autorität der Justiz oder ihrer Unabhängigkeit Eintrag zu tun«, gerichtliche Handlungen oder Entscheidungen »in Mißkredit zu bringen sucht.«56 Nicht umsonst hat Maurice Garçon, der versierte Praktiker der Advokatur, bemerkt, dass das 18. Jahrhundert viel liberaler gewesen sei: Schließlich habe es Voltaire erlaubt, sich mit heftigen Angriffen auf die Richter für die Rehabilitierung