Politische Justiz. Otto Kirchheimer

Politische Justiz - Otto Kirchheimer


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von beliebigen Angehörigen des Staatswesens aus vielfältigen Beweggründen begangen worden sein können. Ein solcher Feld-, Wald- und Wiesenprozess kann ein politisches Gepräge infolge bestimmter Motive oder Ziele seiner Initiatoren oder im Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit, den politischen Bindungen oder der politischen Position des Angeklagten erhalten. Je nach der politischen Gesamtatmosphäre, der Rechtsprechungstradition und den herrschenden Sitten kann ein solcher Prozess auf sehr konkrete Weise den egoistischen Zwecken der Kreise, die gerade an der Macht sind, dadurch dienen, dass er Material ans Tageslicht bringt oder in aller Öffentlichkeit ausbreitet, das die politischen Widersacher der Regierenden in ungünstigem Licht erscheinen lässt. Dadurch, dass sie den im Prozess festgehaltenen Tatsachen, die den politischen Gegner belasten, die größte Verbreitung außerhalb des Gerichtssaals geben, können die Regierungsorgane oder auch einflussreiche politische Organisationen außerdem noch weit und breit kundtun, wie strikt sie sich an die Maßstäbe des für alle gleichen und gewiss unparteiischen Gesetzes halten; die politischen Momente des Prozesses lassen sich dann leicht hinter der Fassade eines ordnungsmäßigen und sauberen Verfahrens, das allgemeine Anerkennung verdient, abschwächen, wenn nicht gar verbergen.

      Zu einer anderen Kategorie gehören Prozesse um Delikte, die im Strafgesetz eigens dazu konstruiert sind, das bestehende Regierungssystem vor einer ihm bewusst feindlichen Tätigkeit zu schützen, die sich dazu noch in allgemein verurteilten Formen vollzieht. Als solche Delikte kennt die Gesetzgebung Hochverrat, Aufruhr, Landesverrat und ein ganzes Arsenal neuerer Variationen, von denen oben in Kapitel II die Rede war.

      In den folgenden Abschnitten sollen die skizzierten Kategorien politischer Prozesse an konkreten Fällen dargetan werden. Dabei werden auch historische Hintergründe, Vorgeschichte und politische Auswirkungen zur Sprache kommen.

       2. Der Mordprozess eine politische Waffe

      Vielerlei lässt sich in politischen Konflikten mit einem Kriminalprozess anfangen. Wenn ein Verbrechen unzweifelhaft vorliegt, kann die Person des vermeintlichen oder wirklichen Täters die Gelegenheit bieten, aus dem Prozess politisches Kapital zu schlagen. Oder der Prozess selbst entspringt – zum Beispiel bei Korruptionsbeschuldigungen – unablässigen Bemühungen gegnerischer politischer Gruppen, sensationellen Enthüllungen einer Zeitung, die ihre Auflage zu erhöhen sucht, oder der hartnäckigen Verfolgungssucht eines Menschen, der eine persönliche Rechnung zu begleichen hat.

      Ebenso gut kann es sein, dass sich eine neue Elitegruppe, der giftsprühende Angriffe auf die Ehre und Sauberkeit ihrer Vorgänger zur Macht verholfen haben, einen Gewinn davon verspricht, dass sie die Vergangenheit der Besiegten durchkämmt und genug Schmutz aufwirbelt, um die Männer des gestürzten Regimes auf die Anklagebank zu bringen. Machthaber vom totalitären Schlage, die gerade an die Macht gekommen sind, können selten der Versuchung widerstehen, mit der alten Ordnung liierte Gruppen, die kaum je den Gefahren politischer Strafverfolgung ausgesetzt waren, auf besondere Art in Misskredit zu bringen: Geistlichen einer Kirche, der man nicht direkt an den Wagen fahren kann, werden beispielsweise Anklagen wegen homosexueller Betätigung, Steuerhinterziehung oder Devisenvergehen angehängt. Dem Gegner werden kleine Unebenheiten auf dem Wappenschild angekreidet (die sich allerdings gegenüber den Verunzierungen auf dem Wappenschild der neuen Herren höchst harmlos ausnehmen), und dem Publikum wird das erschütternde Panorama einer Gesellschaft vorgeführt, die an innerer Entartung hätte eingehen müssen, wäre sie nicht im letzten Augenblick durch den wundertätigen Eingriff der neuen Machthaber gerettet worden.

      Möge die Rahmengeschichte ein belangloser Vorgang aus dem Leben des Alltags, der geplante und vorbereitete Anschlag einer gegnerischen Organisation oder folgerichtige und systematische Ehrabschneiderei sein: Es gibt kaum eine Gattung krimineller Delikte, die banalsten und die ungewöhnlichsten nicht ausgenommen, die man nicht dazu benutzen könnte, politische Leidenschaften zu entfachen. Höchst dramatisch lässt sich die Aufführung gestalten, wenn die Anklage auf Mord lautet, das Mordopfer ein Parteiführer und der Angeklagte ein prominenter Vertreter der Gegenpartei ist. Diese Art Feuerwerk prasselte auf die politische Bühne eines amerikanischen Gliedstaats, des Commonwealth of Kentucky, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts hernieder.

      Zum ersten Mal seit 1859 hatten es die Republikaner 1895 fertiggebracht, die Gouverneurwahlen von Kentucky zu gewinnen: Eine wirtschaftliche Flaute und die Spaltung der Demokraten in der Frage der Silberwährung hatten die Wahl des republikanischen Kandidaten William O. Bradley mit der geringfügigen Mehrheit von 8.912 Stimmen ermöglicht. Die Volksvertretung des Staates blieb jedoch in den Händen der Demokraten. Nachdem sie 1897 eine starke Gruppe von Anhängern der Goldwährung aus der Partei hinausgedrängt hatten, wurde ihre Organisation mit eiserner Faust von William Goebel (1856 - 1900), Fraktionsführer im Kentucky-Senat, regiert. Goebel hatte sich in zähen und erbitterten Kämpfen emporgearbeitet. Weder ein Anhänger der südlichen Feudaltradition noch ein Vorkämpfer der Bürgerkriegsveteranen der Südstaaten, stand er in enger Verbindung mit dem demokratischen Parteiapparat der industriell höher entwickelten nördlichen und westlichen Kreise des Staates; seinen Aufstieg im politischen Getriebe verdankte er einer schroffen Kampfhaltung gegen mächtige Interessentengruppen, namentlich gegen die Eisenbahngesellschaften und ihre republikanischen Fürsprecher. Unter seiner Führung heimsten die Demokraten bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften des Staates 1897 und zum Kongress 1898 beträchtliche Gewinne ein; der Machtkampf blieb unentschieden.


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