Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters
Treffen hatte sich Kleekamp zunächst allen Argumenten widersetzt, einen Termin beim disziplinarischen Vorermittlungsführer wahrzunehmen. »Die glauben mir doch sowieso nicht. Was soll ich also da?«
Moorland hatte ihm schließlich doch klarmachen können, dass eine Weigerung seinerseits vielleicht nicht ganz so clever war. Der über 70-jährige Rechtsanwalt hatte nicht nur eine Menge Lebens-, sondern auch Berufserfahrung und wusste daher genau, wann es Zeit für welchen Weg war. Allerdings hatte es ihn mehr als eine halbe Stunde gekostet, seinen Mandanten von dieser Vorgehensweise zu überzeugen.
Widerstrebend hatte Kleekamp sich also an diesem Morgen rasiert und geduscht, denn sein Rechtsverdreher hatte ihm mit auf den Weg gegeben, dass sein bloßes Erscheinen noch nicht reiche. Es käme auch auf einen guten Eindruck an, wenn er seinen Job behalten wollte. Und das wollte er, denn er hing daran.
Als er draußen die Haustür hinter sich ins Schloss zog und sich umdrehte, stieß er mit einer jungen Frau zusammen, die soeben ins Haus hineinwollte. Kleekamp blickte sie an und stutzte. Sie war fast so groß wie er, schlank, hatte pechschwarze Haare, die straff nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Augenblicklich fielen ihm ihre schneeweißen geraden Zähne auf, was vermutlich daran lag, dass ihre Haut dunkelbraun war.
»Oh, Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen, sondern in meiner Tasche nach dem Schlüssel gesucht.« Sie sprach ohne erkennbaren Akzent, doch Kleekamp hatte den Eindruck, als höre er unterschwellig einen leichten amerikanischen Akzent.
»Ist schon gut«, antwortete er, »ist ja nichts passiert.« Er trat einen Schritt zur Seite und gab ihr die Haustür frei.
»Wohnen Sie hier?« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Ja, unten links.« Kleekamp betrachtete ihre langen Beine, die in einer hautengen Stretchhose steckten. Sie war aus einem Stoff, der irgendwo zwischen schwarzem Leder und schwarzem Gummi lag. Ihre roten Heels bildeten einen auffälligen Kontrast dazu.
»Oh, dann sind wir ja bald Nachbarn«, sagte die junge Frau und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Yvonne. Schön, Sie kennenzulernen.«
Kleekamp wurde von ihrem freundlichen Vorstoß ein wenig überrumpelt und es dauerte einen Augenblick, bis er ihre Hand nahm. »Kleekamp.« Er blickte in ihre Augen und hielt ihre Hand einen Moment länger als üblich fest. Dann bemerkte er ihren Gesichtsausruck, fühlte sich ertappt und ließ schnell los. »Äh, ich muss los, man sieht sich. Tschüss.«
Er drehte sich abrupt um und stiefelte den Plattenweg zum Gehweg hinunter. Das war nicht die erste schwarze Frau, die er gesehen hatte, konnte sich aber nur an wenige erinnern, die so attraktiv waren. Plötzlich musste er grinsen. Sobald sie ihr Namensschild an der Tür angebracht hätte, würde er auch wissen, wie sie mit Nachnamen hieß. Er war sich allerdings sicher, dass er ihren Beruf bereits kannte, denn für Nutten hatte Kleekamp einen guten Riecher. Nicht umsonst hatte er mal eine zur Freundin gehabt.
Kapitel 9
Natalie zog eine leere Kaffeetasse von der Mitte des Tisches zu sich heran. »Glaubst du eigentlich an Gott?« Nachdem sie zurück zur Dienststelle gefahren waren, hatten die beiden sich in den Aufenthaltsraum begeben und Marx hatte die Kaffeemaschine in Gang gesetzt.
»Schwerlich«, gestand dieser. »Was sollte das denn für ein Gott sein, der zulässt, dass sich junge Menschen so etwas antun.«
Natalie musste immer noch daran denken, was sie empfunden hatte, als sie sich das heimlich weitergeleitete Video noch einmal angesehen hatte. Dieser Junge war noch so jung gewesen und hatte sein ganzes Leben noch vor sich gehabt. Ihr war ebenfalls aufgefallen, wie zart und zerbrechlich er ausgesehen hatte. Er hatte nicht diesen manchmal verbitterten oder aufsässigen Gesichtsausdruck anderer Jugendlicher. Der Junge hingegen kam Natalie eher verletzt vor. Ob es das Werk seines Vaters war? Sie schüttelte sich bei der Erinnerung an dessen barsche Worte.
Ihr Kollege holte sie aus diesen düsteren Gedankengängen, indem er die Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee vor sie hinstellte. Natalie lächelte ihn dankbar an und bediente sich. Vorsichtig nippte sie an dem heißen Getränk und blickte Marx dann über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Sag mal Wilfried, werden einem die vielen toten Menschen irgendwann einmal egal oder machen sie einem ein ganzes Polizistenleben lang zu schaffen?«
Marx seufzte und ließ sich gegenüber seiner jungen Kollegin auf einen Stuhl fallen. Er schwieg einen Moment, musste erst überlegen, was er ihr antworten sollte. »Ich glaube, es kommt immer darauf an, wer gestorben ist.« Marx legte beide Hände um die Kaffeetasse, als ob er sich daran wärmen wollte. »Wenn es um Kinder oder um Jugendliche wie diesen Kai Herber geht, dann bleibt es, glaube ich, immer schwer, sich damit abfinden zu müssen. Andere hingegen sterben auf Raten, und man weiß schon frühzeitig, dass sie irgendwann dran sind.«
Natalie warf ihm einen forschenden Blick zu. »Wer stirbt auf Raten?«
»Leute mit unheilbaren Krankheiten, wie zum Beispiel Krebs. Dann unsere Junkies, die sich irgendwann totspritzen, oder die Alkoholiker, die sich mit der Flasche umbringen. Oder psychisch Kranke, die so lange versuchen, sich umzubringen, bis sie es endlich geschafft haben. Da rechnest du einfach damit, sie irgendwann mal tot aufzufinden, aber wenn der Tod so unerwartet kommt …« Marx sprach nicht mehr weiter. Es war zwar ein Scheißthema, aber er konnte verstehen, dass seine junge Kollegin nach Antworten suchte. Das hatte er in ihrem Alter auch gemacht.
»Meinst du, die Eltern von Kai haben nicht gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte?« Auf ihrer Stirn war ein großes Fragezeichen zu sehen.
Marx zuckte mit den Achseln. »Seinem Vater war er anscheinend egal. Es kam mir fast so vor, als sei er froh, dass er ihn endlich los ist.«
Natalie blickte ihn erschrocken an. »Okay, er schien nicht sonderlich zu trauern, aber froh?«
»So, als ob er durch den Tod eine Last losgeworden wäre. Aber wie gesagt, ist nur so ein Bauchgefühl von mir.«
»Was sollte Kai seinem Vater denn für einen Kummer gemacht haben? Ich habe ihn mal durch unseren Computer laufen lassen. Er ist sauber wie frisch gefallener Schnee. Keinerlei Einträge.«
Marx strich sich nachdenklich mit der Hand übers Kinn. »Vielleicht gab es ja schulische Probleme? Vielleicht erfüllte er die Erwartungen des großen Dr. Herbers nicht?« Marx schob seine Kaffeetasse von sich weg und blickte Natalie in die Augen. »Aber denke bitte daran, dass dieser Fall als Suizid eingestuft worden ist. Es wird keine weiteren Ermittlungen mehr geben, da keine Straftat vorliegt. Nur um die können wir uns kümmern. Auch wenn Onkel Herbert mit allen Mitteln versucht, unsere personelle Situation zu verbessern, so müssen die neuen Kolleginnen und Kollegen doch erst einmal ausgebildet werden. Es dauert also noch, bis sie in den Dienststellen ankommen. Bis dahin müssen wir die ganze Arbeit noch alleine machen.«
Natalie musste lächeln, weil Marx ihren Innenminister Reul Onkel Herbert genannt hatte. Der Mann mochte vielleicht jovial aussehen, aber er packte endlich mal Dinge konsequent an und kümmerte sich um die Polizei seines Bundeslandes. Aber Wilfried Marx hatte Recht, wenn er an die Personalnot in allen Behörden und allen Bereichen der Polizei erinnerte. Jürgen Kleekamp hatte ihr das mal mit nur einem Satz beschrieben. »Die haben uns kaputtgespart!«
Marx streckte sich. »Ich habe letzte Woche zufällig ein Zitat von Winston Churchill gelesen, das auch auf unsere Situation passt: Noch nie haben so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt.«
Natalie musste schmunzeln. »Ich glaube das würde Jürgen auch gefallen«, sagte sie und überlegte, was ihr suspendierter Kollege wohl im Moment gerade machte.
***
Sie hätte sich gewundert, wenn sie gewusst hätte, dass Jürgen Kleekamp sich ganz in ihrer Nähe befand, denn in dem Moment, in dem sie an ihn dachte, betrat er soeben die Wache im Erdgeschoss und damit das Reich von Willi Martini. Der dicke Hauptkommissar thronte hinter dem Wachtisch in einem Bürosessel, den er mit seiner Leibesfülle komplett ausfüllte.
»Na, was willst du denn hier? Darf ich dich überhaupt reinlassen? Du bist doch Staatsfeind Nummer eins oder etwa nicht mehr?«, grinste der Dicke