Der Tod der blauen Wale. Joachim H. Peters
dass Kleekamp ihn anders behandelte, wenn dessen Kollegen dabei waren. Es schien fast so, als schämte er sich dann, ihn zu kennen. Bergmann stellte sich darauf ein und hielt sich dann ebenfalls zurück, denn er wollte den Kontakt nicht verlieren. Als er eines Tages bemerkte, dass Kleekamp eine große Anzahl anderer Penner, wie sie in der Bevölkerung verächtlich genannt wurden, auch ganz gut kannte, wurde er sogar ein bisschen eifersüchtig.
Manchmal konnte Bergmann sich für einen Kaffee oder eine Currywurst mit einer Information bei Kleekamp revanchieren, ohne zum Denunzianten zu werden. Aber ab und zu suchte Kleekamp eine Person oder ein Fahrzeug, und wer auf der Straße lebte, der sah viel.
Doch was er vorletzte Nacht gesehen hatte, dass hatte ihm den Atem verschlagen und fürchterliche Angst eingeflößt. Den ganzen gestrigen Tag war er herumgelaufen und hatte darüber nachgedacht, ob er Kleekamp erzählen sollte, was er beobachtet hatte. Aber dann würde er sicherlich zu einem Zeugen in einem Verfahren werden, in das er auf keinen Fall hineingezogen werden wollte. Es würde seine Ruhe stören, die er so sehr schätzte. Doch andererseits war das Beobachtete so schlimm gewesen, dass man es nicht ungestraft lassen sollte.
Jetzt tigerte er durch die Stadt und versuchte, sich zu einer Lösung durchzuringen. Letztendlich kam er zu dem Schluss, eine Entscheidung davon abhängig zu machen, ob Kleekamp ihm über den Weg laufen würde. Sollte also das Scheißschicksal entscheiden, das ihm schon oft so übel mitgespielt hatte.
Kapitel 12
Natalie aß seit Jahren kein Fleisch mehr. Vor etlichen Jahren war sie mit ihren Eltern in deren Auto in den Urlaub gefahren. Ihre Mutter hatte ihr netterweise den Beifahrersitz überlassen und sich freiwillig nach hinten gesetzt. Die Reise nach Bayern dauerte viele Stunden und da Natalie langweilig geworden war, hatte sie begonnen zu lesen. Sie blickte nur noch ab und zu mal sporadisch von ihrer spannenden Lektüre auf, wenn ihr Vater mal zum Überholen ausscherte oder abbremsen musste. Ein solches Bremsmanöver erfolgte dermaßen plötzlich und dementsprechend heftig, dass nur der Sicherheitsgurt Natalie daran hinderte, sich den Kopf am Armaturenbrett einzuschlagen.
Noch vollkommen erschrocken blickte sie auf und wurde mit dem riesigen Auge einer Kuh konfrontiert. Es gehörte zu dem Foto eines Kuhschädels, das auf die Rückfront eines Lastwagens geklebt worden war und sich über die gesamte Breite des Lkw erstreckte. Das riesige Auge dominierte das Bild. Was Natalie aber noch mehr erschreckte, war der Aufdruck, der darunter zu lesen war. »Meine Reise in den Tod ist die Hölle!« Im selben Moment, in dem Natalie das las, glaubte sie die Todesangst in dem Auge der Kuh zu erkennen.
Ihr Vater fluchte und scherte hinter dem Lkw aus, vor dem er hatte abbremsen müssen, weil ein schneller Sportwagen von hinten genau in dem Moment angerast gekommen war, als er zum Überholen ansetzen wollte. Natalie hielt ihr aufgeklapptes Buch immer noch in der Hand und kam kaum darüber weg, was das Bild auf dem Lkw in ihr ausgelöst hatte. Plötzlich sah sie Kühe vor sich, die mit gebrochenen Beinen in einem Viehtransporter lagen; Schweine, die ihre Schnauzen durch die kleinen Schlitze in den Seitenwänden steckten, um wenigstens etwas frische Luft zu ergattern; und Hühner, die für elendig lange Strecken in enge Transportkisten gequetscht worden waren.
Im Urlaubsort angekommen, bestellte sich ihr Vater, der von all dem nichts bemerkt hatte, eine Schweinshaxe mit Sauerkraut. Kaum war die serviert worden, wurde Natalie schlecht. Sie sprang auf, rannte auf die Toilette und übergab sich. Von diesem Moment an brachte sie kein Stückchen Fleisch mehr runter.
Genau deshalb saß sie im Aufenthaltsraum der Kriminalpolizei jetzt vor einem Salat und wollte gerade anfangen zu essen, als das Telefon klingelte. »Ach, da bist du ja«, freute sich ein Kollege, sie gefunden zu haben. »Hier unten ist jemand, der wegen dieses Jungen gekommen ist, der Selbstmord begangen hat. Man hat mir gesagt, dass Marx und du dafür zuständig seid, aber Wilfried finde ich im Moment nicht.«
Natalie verschloss ihre Salatschüssel wieder mit dem Deckel. »Der ist zur Staatsanwaltschaft rüber, schick den Mann in mein Büro, ich nehme ihn da in Empfang.«
Nur wenige Minuten, nachdem sie in ihr Büro zurückgekehrt war, klopfte es auch bereits. Dann wurde die Tür geöffnet und der Besucher blickte sie fragend an. »Guten Morgen, mein Name ist Oliver Weiler, sind Sie Frau Börns?«
Natalie nickte freundlich. »Ja, was kann ich für Sie tun?« Gleichzeitig stand sie auf, streckte ihrem Besucher die Hand hin und bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an.
Weiler zog den Stuhl zu sich heran und nahm Platz. »Ja, also ich komme wegen Kai«, erklärte er. »Kai Herber«, fügte er erläuternd hinzu.
Natalie fand, dass er plötzlich traurig aussah. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Weiler räusperte sich, bevor er weitersprach. »Ich bin der Klassenlehrer von Kai. Wir haben einen Anruf von seinem Vater bekommen, in dem er uns mitgeteilt hat, was passiert ist.«
Natalie antwortete nicht. Weiler war von sich aus gekommen und würde ihr sicherlich bald erzählen, warum er hier war. Sie ließ ihm Zeit und nahm sich selbst auch welche, um ihn genauer zu betrachten. Er hatte volles dunkles Haar und braune Augen, am Kinn ein Muttermal. Schlanke Statur, durchtrainiert, und so wie er vorhin hereingekommen war, schätzte sie ihn auf 1,80 Meter. Er durfte wohl Mitte vierzig sein. Kein unattraktiver Mann in den besten Jahren.
»Ich bin hier, weil ich mir Sorgen um meine Schülerinnen und Schüler mache. Sie alle sind sehr geschockt nach dem, was mit Kai passiert ist.«
Sie nickte verständnisvoll und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück. Vielleicht erfuhr sie ja durch Weiler mehr über die Hintergründe und die möglichen Ursachen für Kais Selbstmord.
»Als man es mir mitgeteilt hat, bin ich sofort in die Klasse gegangen und habe diese Information weitergegeben. Ich wollte nicht, dass meine Schüler es durch irgendwelche Medien oder soziale Netzwerke erfahren. Ich hoffe, das war richtig?« Weiler blickte Natalie fragend an.
»Das müssen Sie entscheiden, ich bin Polizeibeamtin, weder Pädagogin noch Psychologin. Aber menschlich gesehen finde ich es genau richtig.«
Weiler nickte befriedigt. »Ich weiß, ich wollte nur gerne Ihre Meinung dazu hören, Sie haben ja wohl öfter mit so etwas …«, er zögerte etwas, »… also mit solchen Todesfällen zu tun, oder?«
Natalie senkte den Blick und atmete durch. Natürlich hatte sie schon mehrfach mit getöteten Menschen zu tun gehabt, aber das hier war ihr erster Fall von Selbstmord eines jungen Menschen, der sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Das wühlte sie alles noch viel zu sehr auf, und sie war nicht bereit, über ihre Gefühle oder Gedanken zu sprechen, daher nickte sie nur.
»Es ist so, dass ich hier bin, weil ich eine Bitte an Sie habe.« Weiler hatte die Hände im Schoß gefaltet.
»Und die wäre?«, fragte Natalie mit einem unguten Gefühl. Sie hoffte, dass Weiler nicht auf die Idee kam …
»Ich dachte, dass Sie vielleicht unsere Klasse besuchen könnten, um mit den Schülerinnen und Schülern mal über den Fall zu sprechen. Über Ihre Erfahrungen mit solchen Situationen und darüber, wie es den Eltern von Kindern geht, die sich das Leben nehmen.«
Genau das hatte sie befürchtet. Wenn es etwas gab, worüber sie garantiert nicht sprechen wollte, dann waren es die Gefühle von Eltern suizidaler Kinder, denn genau das hatte sie ja gerade hautnah miterleben müssen. »Tut mir leid, das kann ich nicht. Sie sollten sich da besser an einen Notfallseelsorger wenden, die sind für so etwas ausgebildet.« Natalie brauchte dringend frische Luft, denn dieses Thema raubte ihr den Atem. Es war extrem beklemmend für sie. Nachdem sie das Fenster weit geöffnet und tief durchgeatmet hatte, wandte sie sich wieder an Weiler. »Wie gesagt, ich bin da nicht die richtige Ansprechpartnerin. Aber da Sie schon mal hier sind, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
Weiler blickte sie einen Augenblick lang überrascht an, stimmte dann aber zu. »Natürlich, wenn ich Ihnen damit helfen kann.«
»Gut.« Natalie begann hinter ihrem Schreibtisch auf und ab zu gehen. »Zunächst einmal: Was für ein Typ Mensch war Kai Herber?«
Weiler dachte länger nach, bevor er antwortete.