Der Roman eines geborenen Verbrechers Selbstbiographie des Strafgefangenen Antonino M.... Antonino M.
Bruder infolge seiner Verfolgungswahnidee und der mangelhaften Art, verwandtschaftliche Liebe, Dankbarkeit und Verträglichkeit zu empfinden. Er bereitete das Verbrechen zähe und umsichtig vor, infolge seines exzessiv reizbaren und rachsüchtigen Temperaments. Er schoß den unschuldigen Bruder mitten in die Brust, weil in ihm Zorn und Haß blind, die Empfindungen verworren waren und jedes Maß fehlte. Er bereitete seine Verteidigung mit Zähigkeit und Verlogenheit vor, weil in ihm das ursprüngliche Gefühl der Selbsterhaltung riesenhaft überwog, jenes riesenhafte Gefühl, welches alle anderen sozialen Gefühle in ihm verdrängt, soweit sie nicht seiner, dem bürgerlichen Leben widerstrebenden Natur sich anpassen. Er handelte stets zum augenfälligen Nachteil für sich und die andern, oft auch unter der Illusion des unmittelbaren eigenen Nutzens. Er war kein Verbrecher aus Dummheit, denn er war intelligent; er war ein Verbrecher aus Instinkt, in ihm war ein Charakter der Unordnung, des Schadens, des sozialen Umsturzes personifiziert.
Er ist der Typus des Verbrechers, den die Gesellschaft bösartig nennt, jener Typus, den die Lombrososche Doktrin zu leugnen drohte, und welcher der gewöhnlichen Ansicht von der Geißel entspricht, die Gott entsendet, um die sündige Gesellschaft zu strafen.
In meinen Augen ist das in Wirklichkeit der Fall, denn wissenschaftlich gesprochen ist er einer der Faktoren des sozialen Gleichgewichts, und er blüht und gedeiht in der Gesellschaft, wo sich die biologische Notwendigkeit der Beschränkung der Bevölkerung geltend macht. Die flüchtigen und seltenen Anzeichen des Genies in ihm deuten darauf hin, daß die Natur von demselben Stoff wie für die abnormale Entwickelung die Elemente jedes für die Erhaltung des Gleichgewichts in der menschlichen Gesellschaft bestimmten Instruments nimmt. M…, in dem die Charakteristik des Verbrechers vorherrscht, wurde ein vorwiegend negatives Element.
War M…, als er den Brudermord versuchte, in einem Zustand, daß er nicht das vom Gesetz erforderliche Bewußtsein seiner strafbaren Handlung hatte? Das würde außer Zweifel sein, wenn er die That während einer den epileptischen Anfällen vorausgehenden Verrücktheit begangen hätte. Aber er gebrauchte lange Vorbereitungen dazu, und in dieser Zeit wußte er, was er thun wollte und was er auch gethan hat, er wußte es bis auf den Tag und die Minute.
Aber war es wirkliches Bewußtsein von seiner That, das M… hatte?
Wir unterscheiden zwei Bewußtseinsformen, eine intellektuelle und eine moralische. Daß er die erstere hatte, ist klar – aber die zweite? Hier muß man das sogenannte moralische Bewußtsein in der Erkenntnis der Immoralität einer Handlung und in der Empfindung dieser Immoralität unterscheiden.
Bei der ersten weiß ein Individuum, daß eine gewisse Handlung nicht nur andern schädlich ist, sondern auch, daß sie in der Gesellschaft, in der er lebt, für tadelnswert und verdammungswürdig gehalten wird; bei der zweiten empfindet er einen instinktiven Schauder, die That zu begehen, welche die Gesellschaft tadelt und verdammt. In der Regel existieren bei der bürgerlichen Erziehung beide Formen gleichzeitig neben einander. Aber es ist möglich, daß die Erkenntnis der Immoralität vorhanden und die Empfindung derselben nicht zur Ausbildung gelangt ist. Dies ist der Fall bei dem Zustande der Anomalie in der Formation der geistigen Persönlichkeit; bei den entgegengesetzten Zuständen der Dekadenz kann das moralische Empfinden vorhanden sein, während die Erkenntnis verschwunden oder verändert oder verdunkelt ist – oder umgekehrt; diese kann bleiben, während die Empfindung der Moralität verloren, abgeschwächt oder verändert sein kann. Auch können beide nicht gebildet, oder schlecht gebildet, oder verfallen oder verändert sein.[3]
Von grundlegender Bedeutung für die strafgesetzliche Verantwortlichkeit ist die Erkenntnis der Handlung; demgemäß muß diese Verantwortlichkeit die Erkenntnis der Immoralität voraussetzen und der Empfindung der Immoralität allmählich näher kommen.
Hatte nun M… in dem Augenblick, wo er den Brudermord versuchte, die Erkenntnis der Immoralität seiner Handlung? Gewiß, aber nicht entsprechend der Erkenntnis, welche in der Gesellschaft, in der er lebte, gewöhnlich ist. Er wußte, daß die Gesellschaft seine Handlung tadeln würde, aber er wußte bei sich selbst, daß die anderen und nicht er Unrecht hatten, und daß er natürlicher Weise das Recht habe, das zu thun, was er that. Ein Mensch von seinem Charakter hatte sich eine eigene Welt gestaltet, die seinen eigenen Gedanken entspricht, und er handelte in der Ueberzeugung, etwas zu thun, was von den andern getadelt werden würde, aber nicht von den Gesetzen der Gerechtigkeit, wie er sie auffaßte. Er hatte, um es so auszudrücken, das intellektuelle Bewußtsein der juristischen Immoralität seines Verbrechens, aber nicht die eigentliche Überzeugung der Immoralität der That selbst. Es ist genau die Sache wie mit einem Menschenfresser, der hier zu Lande einen Menschen verzehren würde: Er weiß, daß dies für schändlich gehalten wird, aber er selbst findet es in der Ordnung. Und da dieser Wilde nicht von der Immoralität überzeugt ist, als welche die andern seine Handlung erklären, so kann sich in ihm, so lange diese seine Meinung andauert, nicht eine Empfindung festsetzen, welche ihn spontan von seiner Handlung zurückschrecken lassen würde.
Das moralische Empfinden des M… wurde sicherlich nach dem Muster des speziellen Begriffs der Moralität, die er in sich trug, gebildet.
Heutzutage will das Gesetz, daß nur die im intellektuellen Bewußtsein begangenen Handlungen bestraft werden, oder meint es mit dem allgemeinen Wort »Bewußtsein« auch das moralische Bewußtsein? Wenn es auch dieses fordert, so ist klar, daß es dasselbe nach dem Muster desjenigen verlangt, wie es das Erbteil der gesunden und normalen Gesellschaft ist, und nicht wie es als Produkt irgend welcher krankhaften Geisteszustände erscheinen kann, und ohne Zweifel soll das Gesetz auch die Existenz des moralischen Bewußtseins fordern; denn das natürliche Fundament eines jeden Gesetzes ist bei einem freien Volke die allgemeine Überzeugung von seiner moralischen Nützlichkeit.
Hatte nun M…, als er die That beging, die volle Freiheit des Handelns?
Man kann sagen, er hatte sie weder ganz, noch fehlte sie ihm vollständig. Die freiwillige Handlung ist nicht ein freies Produkt des Geistes. Sie ist das Resultat vorhergehender psychologischer Motive, deren Intensität einen analogen freiwilligen Akt als Resultat giebt, und die Intensität der psychologischen Motive und der darauf folgenden Handlung steht in Beziehung mit der gewöhnlichen Art zu empfinden und zu urteilen und entspricht der Persönlichkeit.
Wir haben gesagt, daß M… durch seine epileptische Anlage exzessiv, heftig und impulsiv war. Daraus geht hervor, daß die Freiheit, über welche M… anscheinend verfügte, keine eigentliche, sondern durch sein Temperament beeinflußt war. Es ist bekannt, daß die Epileptiker leicht zu übertriebener Reaktion hingerissen werden.
Der Wille ist der Ausdruck einer kordialen Funktion, er ist das Produkt einer langsamen Evolutionsarbeit, welche als entfernte Antecedentien die automatischen Bewegungen und als Vermittler die Reflexhandlungen hat. Das, was automatisch und reflexiv ist, ist eine Nervenkraft, die noch nicht so weit ausgestaltet ist, daß sie ein Ausdruck bewußter Funktion ist. Das, was in den Willensakten exzessiv ist, ist eine Nervenkraft, die unter dem Impuls automatischer oder reflexiver Aktionen handelt. Zwischen dem Willensakt und dem Urteil, das ihm vorhergeht, besteht bei normalen Bedingungen ein Äquivalent der Intensität; der Exzeß des Willens stellt ein Gewicht dar, welches von außen dem Gleichgewicht hinzugefügt ist, ebenso wie das Gegenteil bei der Willenlosigkeit der Fall ist.
Die Epilepsie ist an sich selbst eine krankhafte Thatsache, welche einen Zustand der ungenügenden Willensentwickelung darstellt; sie ist der Ausdruck der Permanenz automatischer oder halbreflexiver Einflüsse. Um so eher mischt sie sich in diejenigen Willensakte, die von dem Urteil oder der Empfindung hervorgerufen sind, je weniger sie voll entwickelt, d. h. je mehr sie diffus ist.
M… leidet an dem, was ich diffuse Epilepsie nenne, und was gewöhnlich epileptisches Temperament genannt wird, und deshalb können seine Willensakte niemals richtig an der Intensität der logischen Motive, die sie hervorrufen, gemessen werden. Wenn er gegen seinen Bruder gerechten Grund zum Haß zu haben glaubte, und wenn seine Vernunft ihm das Urteil eingegeben hatte, sich zu rächen, so ging sein Wille außerordentlich über die Vorschriften der Vernunft hinaus, bis zum Mord.
Und deshalb war M… am Tage des Verbrechens nicht freier Herr seiner Handlungen.
Demnach