Der Roman eines geborenen Verbrechers Selbstbiographie des Strafgefangenen Antonino M.... Antonino M.

Der Roman eines geborenen Verbrechers Selbstbiographie des Strafgefangenen Antonino M... - Antonino M.


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      Ist er unverantwortlich oder halb verantwortlich?

      Das sind Fragen, die gewöhnlich dem Richter vorgelegt werden, der sie löst, indem er die Umstände, Thatsachen und Folgerungen sich in seiner Weise zurechtlegt.

      Der Irrenarzt hat nicht die subtilen und endlosen Unterscheidungen des Rhetorikers oder Metaphysikers zur Verfügung, die ihm gestatten, die Schuld oder das Verdienst an einer gegebenen Handlung zum Teil auf die Seele und zum Teil auf den Körper zu verteilen.

      Als ich mich dem dunklen Abgrund näherte, wo die Seelenthätigkeit sich vollzieht, da hat mir die schwache Leuchte der Wissenschaft flüchtig einige der Faktoren enthüllt, welche die gröbsten Äußerungen des Geistes bestimmen. Und dieses geringe Ergebnis genügte, um mich zu überzeugen, daß auch in der Thätigkeit des Geistes ein unabänderlicher Determinismus herrscht, daß unter gegebenen Umständen besondere Aktionen bestimmte notwendige Wirkungen hervorrufen. Aber in der langen Kette von Reizen, welche jede Bewegung des Geistes bestimmt, vermag man nicht zu sagen, wie weit eine Aktion durch eine andere aufgehoben oder beeinflußt werden kann.

      Wenn in M… beim Begehen seines Verbrechens der Einfluß realer äußerer Motive die Reaktion bestimmt, so wissen wir nicht, einerseits inwieweit diese Motive Unterstützung oder Widerstand in seinem habituellen Charakter fanden (d. h. in seiner gewöhnlichen Art zu denken und zu reagieren, die durch erbliche und erworbene Neigungen, welche allmählich aus der Erfahrung hergenommen werden, bewirkt ist), und inwieweit andererseits die realen Motive einen Antrieb oder eine mehr oder minder starke Färbung durch jenes Mittelmaß empfangen haben, welches gewöhnlichen Menschen zukommen würde, die ungefähr in seiner Lage und seinen Verhältnissen sich befinden. Wenn man also sagen wollte, daß M… bis zu dem oder jenem Grade die moralische Verantwortung für sein Verbrechen trage, so hieße das glauben machen, daß man den Vorgang, der sich in der Seele bis zum Zustandekommen eines bestimmten Willensaktes abspielt, genau übersieht.

      Der Wissenschaft soll man solche Fragen nicht vorlegen, sie gehören den Metaphysikern und den Theologen, welche den Fuß auf den festen Boden setzen, der ihnen durch ein Axiom oder ein Dogma gegeben wird, und von wo aus sie durch Syllogismen weiter schließen. Uns fehlen beide Prämissen.

      Was heißt verantwortlich oder unverantwortlich für den Gelehrten?

      Wir können bezüglich des M… nur die Erklärung abgeben: das Verbrechen erfolgte als Reaktion auf Motive, die zum großen Teil delirienartiger Natur waren, und die in dem krankhaften Temperament des M… günstige Konditionen gefunden haben, um exzessive und unmoralische Wirkungen hervorzubringen.

      Ist M… strafbar oder nicht?

      Auch auf diese Frage hat der Irrenarzt nicht zu antworten.

      Der Begriff der Strafe, wie er vom Gesetzbuch verstanden wird, ist eine soziale Konvention, welche, um angenommen zu werden, als notwendige Voraussetzung die allgemeinen und besonderen Bedingungen hat, unter welchen im allgemeinen Verträge als giltig anerkannt werden. Dazu gehört in erster Linie die geistige Gesundheit des Kontrahenten.

      In unserm Fall ist M… nicht gesund; folglich hat man mit Bezug auf ihn nicht von einer »Strafe« zu sprechen. Vielmehr hat der Irrenarzt sich zu fragen: Ist es möglich und wahrscheinlich, daß er unter denselben oder ähnlichen Umständen die That wiederholt, und glaubt die Behörde eventuell ein Mittel zu finden, ihn für die Gesellschaft unschädlich zu machen?

      Auf diese Frage antworten wir: M… wird nie von seiner Krankheit gesunden und wird deshalb immer geneigt sein, die Verbrechen zu wiederholen, von denen seine Existenz bis heute voll ist. Und deshalb hat die Behörde, in der Ueberzeugung, daß in dem vorliegenden Fall den M… keine Schuld trifft und ihn darum keine Strafe treffen kann, dafür zu sorgen, daß er unschädlich gemacht werde.

      Soll sie ihn in die Verbrecherirrenanstalt schicken?

      Er müßte an einen sicheren Ort gebracht werden, den er nicht eher verlassen dürfte, bis er unschädlich ist.

      Wird das nie eintreten?

      Man wird im Ernst nicht glauben, daß das vermittelst der Heilkunst geschehen kann, aber vielleicht könnte in dem Laufe der organischen Entwicklung des M… ein Moment kommen, wo M… für die Gesellschaft unschädlich ist. Vielleicht könnte das Alter das herbeiführen.

      Der erfahrene Mann, der mit der Überwachung des M… vertraut ist, könnte seiner Zeit beurteilen, ob der Fall eingetreten ist.

      Und ohne den Makel der Schuld und ohne irgend eine Form der Strafe müßte M… der Öffentlichkeit die Sicherheit bieten, daß von ihm jetzt keine den Mitmenschen nachteilige Handlung mehr ausgehen wird.

      Wenn übrigens der Gerichtshof die Sache anders auffaßt und M… zu einer langen Kerkerstrafe verurteilt, so würde der Irrenarzt sich dabei beruhigen, daß dem gefährlichen Menschen, wenn auch vermittelst des Gefängnisses, die Gelegenheit, weitere Verbrechen zu begehen, entzogen wird.

      Wenn über der Kerkerthür nicht das Wort »Strafe« geschrieben stände, oder wenn, besser noch, diesem Wort eine vernünftigere Bedeutung beigelegt würde, wie etwa Besserung oder Abwehr, wieviel besser würde dann dieser Kerker sein als die Verbrecherirrenanstalt, aus der ein gefälliger Richter nach einem unqualifizierbaren Artikel des gegenwärtigen Gesetzbuchs die gefährlichen Menschen entlassen kann, welche Mittel haben, sich ihm zu empfehlen.

      Girifalco, Juli 1891.

      Prof. Silvio Venturi,

       Direktor des Provinzial-Irrenhauses.

       Inhaltsverzeichnis

      Das Gutachten Venturis beantwortet in so erschöpfender Weise alle Fragen, welche sich über die pathologische Persönlichkeit des Antonino M… erheben könnten, daß ich kein Wort hinzufügen werde.[4]

      Venturi hatte gleichzeitig mit Lombroso darauf hingewiesen, daß in dem geborenem Verbrecher ein atavistisches Produkt, eine Fusion der Epilepsie und des moralischen Irrsinns vorliegt. Später, in seinem Buch über die Degenerazioni psicosessuali stellte er als biologisches Merkmal des instinktiven Verbrechertums (des geborenen Verbrechers Lombrosos) nicht mehr die erbliche Perversität, sondern die Tendenz der Rasse und der Art zur Selbstvernichtung auf, vermittelst Individuen, welche dazu gehören, und welche, indem sie sich selbst oder anderen schaden, entgegengesetzt wie das Genie handeln.

      Jetzt hat Venturi Gelegenheit, in M…, dessen Biographie ich veröffentliche, die wahrhafte Verkörperung des Typus des geborenen Verbrechers vorzustellen, in welchem die Krankhaftigkeit und die bösartige Tendenz zum Schlechten, die von selbst ohne erkennbaren Nutzen für den Handelnden, in Thätigkeit tritt, vereinigt sind, wodurch M… als ein antibiologisches, antisoziales Wesen erscheint.

      Dies vorausgeschickt gelange ich dazu, einige Worte über die Selbstbiographie des M… zu sagen.

      Es ist nichts Gewöhnliches, daß die Verbrecher ihre Memoiren schreiben, und ich will dreist behaupten, daß der Fall einer so genauen und detaillierten Schilderung, die mehrere Male unterbrochen und wieder aufgenommen wird, äußerst selten ist.

      Professor Lombroso hat in seinen Palimsesti del Carcere einige dieser Schriften gesammelt, die alle sehr verworren sind und oft den Eindruck der Verrücktheit machen. Zum großen Teil stammen sie von Verbrechern, welche pathologisch dem M… ähnlich, d. h. moralisch irre und epileptisch sind.

      M… ist kein Schriftsteller, um so wunderbarer ist seine mechanische Art zu erzählen und sein Versuch, den Ereignissen und den begleitenden Umständen eine gewisse objektive Darstellung zu verleihen. Er hat Phantasie im Übermaß, oft entdeckt man in der verschwommenen Form die Tendenz, zu abstrakten Begriffen zu gelangen, aber, wie er sagt, seine Feder vermag dem Faden seines Gedankens nicht zu folgen.

      Wenn man ihn genauer definieren will, so ist er ein Graphomane; die regelmäßige, gedrängte Schreibart, die in langen und geraden Linien seine großen


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