Der Roman eines geborenen Verbrechers Selbstbiographie des Strafgefangenen Antonino M.... Antonino M.
die Umstände nicht gegenwärtig seien, welche zu dem Mord, den er in seinem 17. Lebensjahr begangen hatte, führten.
17. Mai. Immer ruhig. Gestern beleidigte ihn ein Leidensgefährte, er prügelte ihn durch. Er wurde bestraft, aber war nicht empört darüber. Seit einigen Tagen sucht er einen Gefährten zur Flucht zu überreden. Auf Fragen antwortet er zusammenhängend, spricht gut von seinen Vorgesetzten, von denen er, wie er sagt, gut behandelt wird, erinnert sich genau an die Einzelheiten seines Lebens; wenn man ihm eine von ihm gehaßte Person nennt, stößt er Flüche und Verwünschungen aus. Er arbeitet in der Schneiderstube und führt sich gut.
Juni 1890. Betragen wie gewöhnlich; höflich, dienstfertig, gehorsam; er ist es zufrieden, im Irrenhaus zu bleiben, wenn seine Vorgesetzten es wollen. Er verlangt Lektüre, versucht zu dichten, aber klagt selbst, daß ihm die dichterische Ader und der Schwung fehlt. Er versucht, die Vorgesetzten sich geneigt zu machen und sie zu rühren, indem er sagt, daß seine Familie ohne ihn betteln gehen müsse. Er schrieb einen langen Brief an seine Frau, in dem er sich zufrieden und ergeben zeigt. Eines Tages verlangte er ein Blatt Papier und schrieb einen Vers aus Dante: und einen halb rhetorischen, halb wahnsinnigen Entwurf: »Der Gedanke«.
Juli 1890. Er arbeitet fleißig in der Schneiderstube, und sein Benehmen ist in jeder Beziehung untadelhaft. In Worten und Briefen lobt er die Vorgesetzten, daß sie Mitleid mit einem armen Unglücklichen haben. Seiner Frau schreibt er, unbesorgt zu sein und zu hoffen. »Sorge für das Wohl unserer Kinder und achte darauf, daß ihnen kein Schaden zustößt.« »Ich empfehle Dir,« sagt er ein anderes Mal, »immer heiter zu sein und Dich mit Mut und Ergebung zu wappnen,« und er prophezeit ihr eine glückliche Zukunft. Er ist mit Allem und mit Allen zufrieden und verlangt und wünscht nichts. –
Damit schließt die Beobachtungsperiode des M…
Diagnostische Erwägungen.
Nachdem so die Persönlichkeit des Antonino M… dargestellt ist, nachdem auch seine physische Beschaffenheit mit Rücksicht auf die körperliche Entwickelung und die Funktionen des vegetativen Lebens genau untersucht ist, nachdem alles in Erwägung gezogen ist, was während der Zeit, wo er in Observation war, in die Erscheinung getreten ist, wobei keine Gelegenheit und kein Mittel unbenutzt gelassen sind, um normale Veranlagung und krankhafte Neigungen zu entdecken, werden wir jetzt alles darlegen, was zu einem diagnostischen Urteil über den Geisteszustand des M… führen kann.
Wir fanden bei Antonino M…:
1 Erbliche krankhafte Veranlagung. Wir wollen auf die Mitteilungen über diesen Punkt kein Gewicht legen, da sie von der Ehefrau des M… herstammen, die an der Verteidigung interessiert ist. Dennoch ist eine Wahrscheinlichkeit vorhanden. Wie wir später sehen werden, läßt sich der krankhafte Charakter des M… als ein Komplex von Anomalien der Entwickelung darstellen, der nicht individuellen Ursprung haben kann, sondern ihm von seiner Familie überkommen sein muß, insofern er nämlich, abgesehen davon, daß er sie schon in sehr jugendlichem Alter zeigt, einen angestammten Mangel an dem Halt zeigt, vermittelst dessen Leute aus gesunden Familien gewöhnlich zum Gleichgewicht der geistigen Kräfte und der Nervenfunktionen gelangen.
2 Gewohnheitsmäßigen Hang zum Verbrechen. M… hat von seinem 18. Jahr bis heute in einer ununterbrochenen Kette von Verbrechen gelebt, die ohne Ausnahme alle nicht durch genügende, der Gesamtwirkung entsprechende Motive erklärt sind.Deshalb ist kein Zweifel, daß man in M… eine Disposition zum Verbrechen annehmen muß, die an seine Konstitution gebunden ist. Es giebt keinen Fall, an dem man besser zeigen kann, daß es Verbrecher giebt, die es erst durch natürlichen Hang zum Verbrechen geworden sind. Das zeigt auch die Erwägung, daß er eine gewisse Art von Verbrechen und keine anderen begeht; in seiner Persönlichkeit ist immer das Movens zu einem Verbrechen gegeben, er findet in jeder gegebenen Bedingung der Umgebung oder der Gesellschaft einen Anlaß, mit Gewaltthätigkeiten, Aufruhr und Blutthaten zu antworten, und er kann deshalb aus den verschiedensten Gesichtspunkten als der prägnanteste Typus des antisozialen Menschen bezeichnet werden. Strafen, Leiden, Vorwürfe, Entfernung vom Vaterland und den Angehörigen hatten keinen Einfluß auf die Ausbrüche seiner Natur. Er war und ist eine Gestalt des instinktiven Verbrechers, aus der Klasse der unmoralischen blutdürstigen Verbrecher. Ich hebe die bemerkenswerte Thatsache hervor, daß M… keinen Hang zum Diebstahl gehabt zu haben scheint. Unter den geborenen Verbrechern, den krankhaften Produkten individueller Entwickelung oder konstitutioneller Krankheit muß man mehrere Typen unterscheiden, welche gemeinsame und verschiedene Charakterzüge haben, die die Grenze zwischen den einzelnen bezeichnen, ohne deshalb die Thatsache auszuschließen, daß in demselben Individuum ein gemischter Typus auftreten kann. Nach den Ermittelungen hervorragender Kriminalisten sondern sich die Diebe von den Mördern und den Verbrechern gegen die guten Sitten, welche letztere auch Mörder und Diebe sein können, aber die Unterscheidung zwischen den beiden ersteren ist häufiger. Das entspricht mit großer Deutlichkeit dem klinischen Typus, den M… als Verbrecher der zweiten Klasse darstellt. Wir sagen das, weil seine päderastischen Anwandlungen von besonderen Umständen hervorgerufen und vorübergehend waren, und nicht zu anderen sexuellen Scheußlichkeiten sich entwickelten, die sonst den Sexualperversen eigen sind. Auch die Fälschung, die er einmal beging, kann man nicht als dem Diebestypus zuzuzählen bezeichnen, denn die Absicht, in der er sie beging, war vielmehr der Ausdruck eines Mangels an moralischem Gefühl, als eine Tendenz zu den Verbrechen, zu welchen Verstellung, Vorbereitung, Zähigkeit und gemeiner Charakter gehören. Der Umstand, daß M… sich auch in seiner Straf- und Dienstzeit wiederholt über Geldmangel beklagt, ohne daß er, wenigstens soviel wir wissen, sich zum Stehlen hat hinreißen lassen, zeigt, wie sehr der besondere und unbezwingliche Hang zum Verbrechen der natürliche Effekt seiner Konstitution und nicht außerhalb seines Organismus wirkender Bedingungen war. M… zeigt, abgesehen von einer besonderen Hartnäckigkeit und einer raschen Auffassungsgabe, die ihn unter seinen Gefährten hervorragen läßt und ihm leicht die Mittel zum Verbrechen und zur Verteidigung in die Hand giebt, eine der gewöhnlichen Intelligenz der Verbrecher überlegene Intelligenz, welche seinen Geist zu Urteilen allgemeinerer Art führt, so daß er den Rohstoff zu einem Schriftsteller und Philosophen in sich trägt.M… war und ist auch besonderer Affekte des Hasses und der Liebe fähig, die an Intensität, Art und Färbung sich sehr von denen unterscheiden, welche bisweilen einen weniger unedlen Zug des gewöhnlichen Verbrechers bilden, bei dem es schon viel ist, wenn er inmitten der vielen Beweise für einen weitgehenden Mangel an moralischem Gefühl irgend eine zärtliche Neigung oder eine anscheinende Edelmütigkeit entwickelt, wenn er Personen oder Umständen sich gegenüber befindet, die sein Gelüst oder sein Interesse nicht reizen.Man weiß, in welche Übertreibung eine gewisse Bewunderung für die Affekte und den Großmut der Verbrecher, besonders der Briganten, ausgeartet ist. M… ist ein geborener Verbrecher, bei dem die Perioden, wo er wild, grausam, heftig, falsch, verworfen, zornig, hochmütig, argwöhnisch &c. &c. ist, mit anderen abwechseln, wo er weniger wild gewesen und sogar teilweise edelmütig und liebevoll ist. Deshalb muß man festhalten, daß M… als Verbrecher nicht von der Geburt allein den ganzen Umfang seiner krankhaften moralischen Disposition habe. Der geborene Verbrecher hat als krankhafte Individualität seine Analogien mit stark nervenkranken und seelenkranken Personen, bei denen die Krankheit eine Folge von Entwickelungsanomalien infolge ererbter Ursachen oder eine Folge von Einflüssen degenerierender Art ist, die sich im Verlauf des Lebens geltend machen. Insbesondere hat der geborene Verbrecher Analogie mit dem Epileptiker und dem moralisch Irren. Wir wollen sehen, worin bei M… diese Analogien bestehen.
3 Anzeichen epileptischer Natur. Diese finden sich überall in M…'s Leben, und es genügt ganz allgemein, auf die exzessiven Zustände hinzuweisen, die immer die Handlungen und Gedanken des M… begleiteten.M… hat alle moralischen Eigenschaften der Epileptiker – er ist cholerisch, aufbrausend, ausschweifend, grausam, verleumderisch, argwöhnisch, neidisch, eitel und übertrieben im Haß und in der Liebe. Man kann sagen, daß jede gute That und jedes Verbrechen aus der einen oder der anderen krankhaften Eigenschaft seines Temperaments hergeleitet werden kann. Und wenn M… ein geborener Verbrecher ist, weil bei ihm das Verbrechen nicht nur gewohnheitsmäßig und unwiderstehlich und durch unverhältnismäßige Anlässe hervorgerufen erscheint, sondern auch, weil die Neigung zum Verbrechen mit der Entwickelung seiner physischen und psychischen Persönlichkeit wuchs, und er sie erblich überkommen