An heiligen Wassern. Jakob Christoph Heer

An heiligen Wassern - Jakob Christoph Heer


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Als er den Verlauf gehört hatte, zog er ein paar Banknoten aus der Brieftasche: »Da, Seppi, noch vor der Losgemeinde gehst du zum Presi und tilgst den Brief. Ich werde dir kein harter Gläubiger sein. Wenn er Haken macht, bin ich da! Die Geschichte ist nichts!«

      Seppi, der gemeint hatte, kein Mensch auf der Welt sei ihm mehr gut, glaubte an ein Wunder. Alle Zerschlagenheit, die er zu Hause am Leib gespürt, war in Lebenslust verwandelt. Schon das Kommen des Garden hatte ihn aufgerichtet, das Angebot stimmte ihn fröhlich. »Darf ich es auch annehmen?« fragte er glückselig, dann jubelte es in ihm: »Frei — frei!« Seine Zunge war gelöst, der sonst stille Mann sprudelte die Worte nur so heraus: »O, Garde, glaubt nicht, daß es mir an Mut fehlt, an die Weißen Bretter zu steigen, ich bin ja als Wildheuer häufig genug am Seil gehangen und weiß wohl, daß mein Leben Tag um Tag an einem Faden hängt, aber ich habe es nicht verwinden können, daß ich auf eine so mißliche Art in die Pflicht gekommen bin, grad wie die Maus in die Falle — und ich habe es der Fränzi nicht sagen dürfen — gekrümmt und geklemmt hat es mich — sie ist ein so himmelgutes Weib.«

      Die Männer waren auf die Unglücksstelle gekommen, mit dem Fernrohr musterte der Garde die Zerstörungen an der Leitung, die Abbruchstelle des Gletschers, und wohl eine Stunde lang tauschten die beiden ihre Beobachtungen. »Es ist wie vor vierzehn Jahren, die Kännel sind alle weg, ein weiterer Abbruch aber nicht zu fürchten.« Der Garde begann behaglich aus seinen großen Erinnerungen zu erzählen, was jede Stelle an den Weißen Brettern und in den Wildleutfurren für besondere Schwierigkeiten habe und mit welchen Vorteilen man sie am besten überwinde. Da wurde Seppi ganz still, sein braunes Gesicht rot und röter. »Garde!« schrie er plötzlich, als sprengte es ihm die Brust, »ich steige an die Weißen Bretter. Freiwillig gehe ich.«

      Der Garde maß ihn lange mit durchdringendem Blick; dann sagte er langsam und tief: »Gut, so geht! Ihr sagt's im Anblick der Gefahr, also ist's Euch ernst.«

      »Weiß Gott!« bestätigte Seppi. Der Garde reichte ihm die Hand: »Fränzis und Eurer Kinder wegen sollte ich Euch zurückhalten, aber die Fron liegt einmal auf der Gemeinde, und da hat der Presi recht, es ist keiner, der das Werk eher zu stande brächte als Ihr; Gott, der es Euch eingegeben hat, hinaufzusteigen, wird Euch schützen. Es liegt ein Segen auf der freiwilligen That — ich habe es erfahren.«

      Stumm gingen die Männer ins Dorf zurück, der Garde sagte: »Jetzt laßt mich mit der Fränzi sprechen, wartet.«

      Sie war eben vom Presi zurückgekehrt, schweigend und mit gefalteten Händen hörte sie die Rede des Garden.

      In herzzerbrechendem Ton sagte sie: »Wohl, wenn ihn Gott berufen hat, so darf ich ihm nicht in den Arm fallen. Es wird schon ein Glück darauf sein!«

      Der Garde erwiderte bewegt: »Ich danke Euch, Fränzi, — ich bin amtsmüde — ich lege heute die Stelle im Gemeinderat nieder, — Seppi Blatter mag der neue Garde werden.«

      »O, Garde!«

      Aber Hans Zuensteinen war schon gegangen. — —

      Die Glocken erklangen, das Volk sammelte sich auf dem Kirchhof, der im Nelkenschmuck rot erglüht war.

      Die Männer hatten die Hüte gezogen und standen in Gruppen, einzelne auch mit Weib und Kind an den Gräbern Eigener, über welchen die Blumen wogten. Wie war allen wohl, die im heiligen Boden ruhten. Aber auch in ihr Leben hatte die Wildleutlawine die bangen Tage gebracht. War eine Familie im Dorf, die in der Folge der Geschlechter nie ein Opfer der heligen Wasser zu beweinen gehabt? — Kaum eine!

      Endlich verstummten die Glocken, die Männer nahmen Abschied von den Ihrigen — Seppi, der soeben gekommen war, sprach mit Fränzi und den Kindern — und wären die anderen nicht ganz im eigenen Kummer gefangen gewesen, so hätte ihnen die fahle, schmerzzerrissene Gruppe schon die Lösung eines Geheimnisses gebracht.

      So blieben die Dörfler alle in dunkler Furcht und gräßlicher Spannung. Nur Bälzi, der wein- und schnapsselig unter seinen bleichen Würmern stand, hatte das Bild gesehen und lachte blöd.

      Vom Bären herüber bewegte sich der Zug des Gemeinderates, vor ihm her trug der Weibel, der angedöselt war, so daß der Zweispitz auf seinem Kopfe schwankte, die silberne Losurne.

      Hinter dem kleinen Zug schloß sich die Kirchenthüre.

      Da warfen sich die Frauen und Kinder auf die Kniee, ins blühende Gras; das Gesicht gegen die Kirche gewendet, sandten sie die leidenschaftlichen Fürbitten für die Ihrigen zum Himmel, ihr heißes Murmeln schwoll wie Windesrauschen an und ab. Manche weinten, dicht an die Mütter drängten sich die Kinder, die noch kaum wußten, was ihre lallenden Gebete sollten.

      Fränzi, Vroni und Josi lagen mitten unter den anderen auf den Knieen und ihre Thränen strömten reichlich. Nahe bei ihnen kniete Eusebi, das flammende Beten der drei bewegte ihn so, daß er seine Stotterzunge vergaß und mit Vroni im Gleichtakt seine Bitten in den Himmel hinaufschickte.

      Am weißen Kirchturme, der eine etwas plumpe Nachahmung eines italienischen Campanile war, schlich der Uhrzeiger mit tödlicher Langsamkeit, so langsam, daß einmal eine Stimme schrie: »Die Uhr geht nicht!« — Aber sie ging. »Erst eine halbe Stunde tagen sie!« jammerten die Weiber.

      Plötzlich schrie die Frau des Fenkenälplers auf: »Ich halt's nicht mehr aus,« sie sprang an die Kirchenthüre, sie rüttelte am Schloß, sie schlug wie besessen die Fäuste auf die Füllung der Thüre. Umsonst, die Männer hatten sich eingesperrt.

      Noch eine halbe Stunde! — Drei Weiber zugleich poltern an die Thür des Gotteshauses, ein anderes liegt ohnmächtig in den Nelken, die Gebete rauschen nicht mehr, sie rasen zum Himmel.

      Da knarrt das Schloß — der Weibel tritt hervor. — Tödliche Stille — »Seppi Blatter hat sich freiwillig gestellt!« — Lautes Weinen bildet die Auslösung der Spannung.

      Aus der Kirche ergießt sich die dunkle Schar der Männer. Die Weiber stürzen schreiend auf sie zu und umhalsen sie: »Jetzt wollen wir wieder friedlich zusammen leben und arbeiten! — nie wollen wir zanken!« Und der Bäliälpler und sein Weib, die einander nicht mehr leiden mochten, versöhnen sich.

      Bälzi schreit: »Es lebe Seppi Blatter, der neue Garde!« und schwenkt den Hut.

      Jetzt kommt Seppi Blatter selber, totenblaß, doch hoch aufgerichtet.

      »Vater!« — ruft Josi und hält ihn umschlungen, »ein Held will ich sein wie du — ich gehe mit dir.«

      »Du bleibst bei der Mutter!« sagt Seppi bewegt. Fränzi ist an seine Brust gesunken, sie schluchzt, als drehe sich ihr das Herz in der Brust.

      »Du himmelgutes Weib!« Er küßt ihr dunkles schwellendes Haar. »Kommt — kommt!«

      Dicht aneinandergedrängt bewegt sich das Vierblatt von Eltern und Kindern am Bären vorbei.

      Die Leute ziehen vor ihm ehrfürchtig die Hüte. Auf der Freitreppe steht der Presi. Wie er Seppi Blatter sieht, schwankt er ins Haus. Ihm ist nicht gut. Die Ueberraschung, daß das Aeckerchen bezahlt worden ist und Seppi Blatter freiwillig an die Bretter steigt, hat ihm einen großen Stoß gegeben.

      Jetzt wallt das Volk in den Bären. Dem Schrecken darf ein Trunk im stillen folgen. Laut sein ist nicht schicklich, aber in gedämpftem Gespräch stoßen die Dörfler mit den Gläsern an:

      »Auf Seppi Blatter, den Freiwilligen, mögen ihm Gott und die Heiligen fröhliche Wiederkehr schenken!«

       Inhaltsverzeichnis

      Gegen Abend kam Hans Zuensteinen feierlich in die Wohnung Seppi Blatters. In stummer Fassung saß die Haushaltung da, Frau Fränzi wie ein Marterbild, Vroni mit den Thränen kämpfend, Josi voll Neugier und freudiger Zuversicht.


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