An heiligen Wassern. Jakob Christoph Heer
Wildheuerin, aber die Bauern, die ihresgleichen nicht aus dem Wege gingen, wurden kleinmütig vor ihr. Schon ihre Erzählkunst, die sie an langen Winterabenden im Kreise der Dörfer übte, gaben ihr etwas Geheimnisvolles, man betrachtete sie wie eine, die mehr erlebt hat, mehr weiß, mehr denkt, mehr fühlt als die andern. Ob sie gleich die Spuren schwerer Arbeit an sich trug, so war sie doch ein Weib, dem der Wiederschein dessen, was sie reich in der Seele lebte, in Augen und Angesicht lag und einen eigenartigen Reiz verlieh. Und vor allem war sie eine rechtschaffene Frau.
Der Presi und sie maßen sich einen Augenblick, sie den Gegner in Bescheidenheit und tiefer Trauer.
»Gebt mir das gemeine Papier zurück, Presi!« sagte sie, indem sie ihn mit ihren großen blauen Augen ruhig, fast freundlich anblickte.
»Geschrieben ist geschrieben, Fränzi!« In barschem und bedauerndem Ton sprach es der Presi.
»Ihr besteht auf einer erschlichenen Unterschrift — — du bestehst darauf, Peter!«
Der Presi zuckte zusammen und krümmte sich, als sie ihn duzte, sein Gesicht wurde fahl. Eine Welt voll schöner und peinigender Erinnerungen stand in ihm auf.
»Peter! Es sind sechzehn Jahr', da hast du in der Nacht an mein Fensterchen gepocht. Du hast in meinem Kämmerchen geweint und auf den Knieen gefleht: 'Fränzi, erhöre mich, ich bin verloren, wenn du mich nicht rettest, ich bin im Streit vom Vater gegangen, ich habe keinen guten Menschen als dich!' Wir verlobten uns heimlich und sechs Wochen warst du mir gut. Dann söhntest du dich mit dem Vater aus und nahmst auf sein Drängen Beth. Du warst treulos gegen mich, treuloser gegen sie, denn du hast sie nicht geliebt.«
»Wozu das, Fränzi?« sagte der Presi dumpf und hilflos vor der Würde des Weibes, das vor ihm saß.
»Weil ich meinte, ich habe mit dem unendlichen Leid, das du mir damals zufügtest, das Recht erworben, daß du meinen Mann und mein Haus in Ehren haltest und ihnen unnötig nichts Leides anthuest.«
Der Presi schluckte: »Ihr Frauen versteht nichts von dem — und Fränzi — ich muß mein Geld und die Gemeinde einen Mann haben. Keiner ist wie Seppi für das Werk geeignet. Es geschieht ihm auch nichts dabei!«
»Ich will dir sagen, warum Seppi gehen muß. Du hast es ihm nie verziehen, daß er mein Mann geworden ist. Du wolltest mich, das arme Mädchen, nicht mehr für dich, aber du gönntest mich auch keinem anderen. Wie David den Urias in den Krieg geschickt hat, schickst du Seppi an die Weißen Bretter — nicht daß du mich, das schon fast alte Weib, mehr möchtest, aber du hassest ihn!«
So sprach Fränzi mit ihrer tiefen und schönen Stimme.
Der Presi zitterte und mußte sich halten. Zog ihm Fränzi Schleier von den Augen? — Ja! Vorgestern, wie er als Frischverlobter von Hospel gegangen war, da war auf dem langen Weg die alte Zeit an ihm vorübergezogen. Beth hatte er nicht geliebt, in Frau Cresenz war er auch nicht recht verliebt, er nahm sie, weil sie eine tüchtige Wirtin war, die sechs heimlichen Wochen mit Fränzi waren sein einziges sonniges, großes Liebesglück gewesen. Er, Tölpel, hatte das jahrzehntelange Glück, das vor ihm lag, verscherzt. Und dann hatte der Wildheuersepp, was er selbst verloren, gefunden. Aus diesem Gefühl war er Seppi aufsässig gewesen. — Seit Fränzi gesprochen, wußte er es.
»Gieb mir den Vertrag, Peter!« sagte Fränzi gütig.
Er reckte sich, zauderte, dann donnerte er: »Ich lasse mein Kind von euch nicht Schlechthundekind nennen!«
Fränzi fuhr zusammen: »Peter, vergieb Seppi, er hat in seiner Qual nicht gewußt, was er sagte!«
Sie war aufgestanden, sie hatte seine Hände ergriffen, sie sank vor ihm in die Kniee, umklammerte seine Fäuste: »Peter, Peter, sei barmherzig!«
Seltsam! — In ihrer wilden Erschütterung gefiel ihm Fränzi wieder — er mißtraute aber der Empfindung — er fürchtete eine Uebereilung — darum war er hart gegen sie. Er schleuderte sie röchelnd von sich: »Das Greinen und Betteln kann ich schon gar nicht leiden. — — Und das 'Schlechthundekind' muß gestraft sein!«
Als er sie von sich stieß, löste sich Fränzis prächtiges dunkles Haar, mit fliegender Brust stand sie einige Schritte entfernt vor ihm; die Leidenschaft hatte sie um zehn Jahre verjüngt, aber ihre Stimme zitterte.
»Wenn nicht um meinet- und meiner Kinder willen, so sei's um deinet- und Binias willen — sei barmherzig gegen dich selbst — und gegen dein Kind!«
Der Presi blickte das leidenschaftliche Weib begehrerisch an, wüste Züge entstellten sein Gesicht und gaben ihm einen tierischen Ausdruck; die Augen traten hervor und funkelten. Mit erstickter Stimme sagte er: »Fränzi — ich will alles wieder gut machen, Fränzi — — aber gieb mir einen Kuß — wie einst!«
Sie starrte ihn verständnislos an; dann fragte sie allen Ernstes: »Bist du wahnsinnig geworden, Peter, — ich habe ja einen Mann und Kinder!«
»Dann geh'!« knirschte er.
»Ich gehe, aber noch einmal: mache das Böse gut — sonst — Peter — bei der seligen Beth — die vom Himmel auf dich sieht — bei den armen Seelen, die im Eise stehen — es kommt ein Schaden über dein Kind — und Beth — das weißt du — hat auf dem Totbett gesagt, ich möchte dich mahnen, wenn Unglück für Binia im Verzuge sei. Peter, Peter, richte dich nicht selbst!«
»Seit wann bist du unter die Bußpfaffen gegangen, Fränzi?« Und mit steigender, kreischender Stimme schrie er: »Jetzt mache, daß du fortkommst, sonst —«
Er hob den Stuhl zum Schlage gegen Fränzi.
Da wich sie der Gewalt des Wütenden.
In der Aufregung des Gesprächs hatten die beiden nicht bemerkt, wie zwei dunkle, glühende Kinderaugen, wie ein blasses, schmerzentstelltes Kindergesicht in fiebernder Spannung zwischen den Vorhängen des Ofens hervor jedem ihrer Worte gefolgt waren.
Als Fränzi gegangen war, sank der Presi auf einen Stuhl, hielt den Kopf mit der Hand und stöhnte: »Daß ich nie gelernt habe, rückwärts zu krebsen — daß ich diesen harten Kopf nicht brechen kann. Fränzi, du hast mehr als recht, — mit sehenden Augen renne ich ins Unglück.« — Seine Lippen zuckten im Selbstgespräch.
Da kam Susi: »Presi, die Gemeinderäte sind da — es ist alles für die Sitzung bereit.«
Er warf einen Blick ins Freie.
Rings von den Bergen herab stiegen die Sennen auf ihren Maultieren, sie trugen das sonntägliche Gewand, viele waren von ihren Angehörigen begleitet, die ebenfalls ritten, so daß jede Familie eine schöne Gruppe bildete. Aber zur vollen Wirkung des Bildes fehlte die Farbenpracht der Trachten, die an weltlich festlichen Tagen dem Glotterthaler Völklein eigen ist. Man sah nur das schlichte Kirchenkleid, die Männer trugen die dunklen Kittel ohne den Schmuck der Seidenstickereien, den schwarzen Filz ohne Blumen, die Frauen hatten über die Büste dunkle Brusttücher gekreuzt und an den Hüten flatterten die Bänder in gedämpften Farben. Manche drehten im Reiten den Rosenkranz, kein Juchschrei tönte durch die Berge; von weitem sah man, daß die Leute nicht lachen mochten und das Wort im Herzen verschlossen. Wozu reden? Jeder und jede wußte, was die Gedanken des anderen bewegte; wer einmal im Scherz gesagt hatte, er würde den Gang an die Weißen Bretter wagen, trug heute ein doppelt bekümmertes Sündergesicht zur Schau. In feierlicher Ruhe strömte das Volk von allen Seiten ins Dorf und an den Häusern standen einzelne Maultiere angebunden, besonders viele an der langen Stange vor dem Bären.
Im letzten Augenblick sah der Presi den Garden mit Seppi Blatter kommen, beide waren sehr ernst und feierlich. Der Garde schien größer als sonst, er trug seine Amtstracht, einen Hut mit wallenden blauschillernden Hahnenfedern, das Schwert am Gurt, die Binde am Arm.
Da ging der Presi, mit sich selbst noch in Streit, wie er das Zünglein der Wage schwenken wolle, aus seiner Stube in die schwere Sitzung.
Früh am Morgen war der Garde in die Wohnung Seppi Blatters gekommen und hatte ihn in all seinem Kleinmut gefunden. »Begleitet mich zur Schau, wie die Lawine gegangen ist, und ob nicht noch