An heiligen Wassern. Jakob Christoph Heer

An heiligen Wassern - Jakob Christoph Heer


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seine Freiheit und Ehre wiedererlange. Man führte ihn an die Weißen Bretter und siehe da — ihm gelang es, die Reifen festzumachen und die Kännel zu legen. Die Merkhämmer klopften, das Wasser floß nach langem Unterbruch wieder fröhlich durchs Thal; da wurde beschworen, daß jede Blutschuld gesühnt sei, wenn der Thäter die heligen Wasser an den Weißen Brettern aus dem Verderben rette.

      Alle zweimal sieben Jahre, bald ein paar Sommer früher, bald ein paar Sommer später, saust die Wildleutlaue über die Weißen Bretter herunter und zerstört die Wasserfuhre, immer muß dann ein Mann auf Leben und Sterben an die Felsen emporsteigen, daß er die Kännel wieder füge, und geheimnisvoll waltet, wenn sich kein Freiwilliger meldet, darüber das Los.

      Als vielhundertjährige, durch Brauch und Sitte, ja sogar durch die kirchlichen Anschauungen geweihte unablösbare Fron liegt die Instandhaltung der heligen Wasser auf dem Dorf, der milde Segenspender von Hospel ist der Drache von St. Peter, der die blühende Mannschaft des Dorfes verschlingt. Dunkle Sagen melden von manchem Opfer, das unfreiwillig an die Weißen Bretter emporgezwungen worden ist; mit den Ueberlieferungen, die von den Unglücksfällen berichteten, welche an den schrecklichen Wänden geschehen sind, könnte man ein Buch füllen.

      Auf einer der vielen Gedenktafeln im grauen Kirchlein an der Brücke, das einst den fröhlichen Bergknappen als Gotteshaus diente, sagt eine Inschrift, die auch schon halb verblaßt ist, kurz und schwer: »Welche Trauer! Der Totfäll' ist kein End'!«

      Sollen die Opfer überhaupt nie enden? — Die Sage tröstete, einst würde ein Liebespaar St. Peter von der Blutfron an den heligen Wassern erlösen, aber eine Jungfrau müsse darüber sterben. Wann? — Ja, wohl erst, wenn sich die andere Sage erfüllte, daß auf den Bergen, auf denen jetzt die großen Gletscher liegen, Rosengärten blühen, der kreisende Adler sich des fallenden Zickleins erbarmt und es der Mutter bringt.

      Heute ist Wassertröstung — Losgemeinde. Nur scheu und verstohlen wagt sich die Frage, die auf allen Herzen brennt, hervor: Wer wird an die Weißen Bretter steigen müssen? — Das Los — das blinde Los, wen trifft's? — Sie liegt wie ein Alpdruck auf den Gemütern, denn keiner weiß, ob nicht er aus der alten silbergetriebenen Urne des Dorfes, die noch an die Bergwerksherrlichkeit erinnert, sich die Verdammnis ziehen wird, als Bürger von St. Peter den Gang auf Leben und Sterben zu wagen. Er — oder wenn nicht er, sein Vater, sein Sohn oder sein Bruder. Auf jedem Herzen liegt die Furcht und gräßliche Spannung. Da ist kein Unterschied zwischen arm und reich, wer zwischen zwanzig und sechzig Jahren und im Besitze der bürgerlichen Ehren steht, der muß dem Rufe folgen, wenn er aus der Losurne an ihn ergeht.

      Auf die erste Nachmittagsstunde, nachdem die heligen Wasser gebrochen waren, sollten die Bürger zur Losgemeinde einberufen werden. So forderten es die alten Satzungen. Vom Fall der Lawine an bis zur Loswahl standen in St. Peter alle Rechtshandlungen, die sich nicht auf die heligen Wasser bezogen, Kauf, Verkauf, Taufe, Hochzeit und Begräbnis still. Beim Ehrenverlust durfte niemand das Thal verlassen, alle hatten dem Klang der Glocken zu folgen, die vom Mittag an eine Stunde lang zur Wassertröstung läuteten. Die Satzungen drängten auf rasches Handeln, und das war gewiß besser als die lange Ungewißheit; um so furchtbarer aber lasteten die kurzen Morgenstunden auf dem Dorfe, denn noch war die Abmachung zwischen dem Presi und Seppi Blatter nur wenigen bekannt, und die schwiegen.

      Die einen, die im Bären saßen, stierten trübsinnig in das Glas und der Wein mundete ihnen nicht, die anderen tranken und johlten dazu.

      St. Peter, das stille Dorf, wo die Leute kaum zu lachen und zu reden wagten, war heute laut und lebendig, der Hälfte der Bewohner hatte die Furcht und Spannung die Zunge gelöst.

      »Hört! — hört!« Alle drängten sich um den Tisch, wo der bocksbärtige Bälzi beim Schnaps hockte und prahlerisch wiederholte: »Ich weiß, was ich weiß — es kommt nicht zum Losen. Es meldet sich einer.« Allein er blieb bei dunklen Andeutungen — enttäuscht wandten sich die anderen von ihm ab: »Er ist ein unzuverlässiger Lump. Gebt nichts auf den!«

      Doch hatte sich's schon einigemal zugetragen, daß sich unverhofft und in den bittersten Nöten ein Freiwilliger für die gefahrvolle Arbeit meldete. Im Anfang des Jahrhunderts ein armer, braver Knecht, der umsonst beim harten Vater um die Hand der Meisterstochter gebeten hatte. Er legte die Kännel, und die Gemeinde trat für ihn als Freiwerber ein. Im Jahre 1819 fiel ein Freiwilliger, der geglaubt hatte, seinem toten Vater, der wandeln mußte, die Ruhe zu verschaffen. Und nachdem zweimal das Los gewählt, hatte sich vor vierzehn Jahren Hans Zuensteinen freiwillig als Helfer gestellt; sein Gang war die Lösung eines Gelübdes, das er für die glückliche Errettung seines Weibes aus dreitägigen Nöten bei der Geburt Eusebis gethan hatte.

      Darauf hatte man ihm das Ehrenamt des Garden verliehen, das er musterhaft verwaltete.

      Wunderbar wäre also nicht, wenn auch jetzt wieder einer, von den geheimen Mächten des Lebens getrieben, aufstehen und den Bann von der Gemeinde nehmen würde.

      Susi, die alte Trottel von Haushälterin, und Mägde aus dem Dorf besorgten die Wirtschaft, der Presi ließ sich seit einer halben Stunde nicht blicken, aber wenn die Gäste gehorcht hätten, so hätten sie seine schweren Schritte durch die Decke über sich gehört.

      »Gott's Maria und Sankt Peter — Räusche haben wir alle gehabt.« — Jetzt stand er im Selbstgespräch still und stützte sich auf den Tisch. »Ich muß hinter sich machen.« Er nahm ein beschriebenes Blatt Papier, er that, als wolle er es zerreißen. Er legte es aber wieder hin. »Was angefangen ist, muß man vollenden.« Er lief und wiederholte: »Dumm« — »dumm« — »dumm.«

      Der Mann kämpfte gegen sich selbst, daß ihm die hellen Schweißtropfen auf der Stirne standen. Er hatte nichts Großes gegen Seppi Blatter; der war ein geplagter Mann, der mit seinem Fleiß ein besseres Fortkommen verdient hätte, und der Verkauf des Rindes war nicht von Wichtigkeit. Man durfte als Presi nicht kleinlich sein. Der ganze Handel war ein Streich des Uebermutes gewesen, in seiner Anheiterung hatte er, gereizt von Seppis Widerstand, prüfen wollen, ob er ihn nicht doch herumbringe. Ja, wenn die Sache zwischen ihm und Seppi geblieben wäre, dann hätte er schon rückwärts krebsen können, aber der Bäliälpler wußte davon, Bälzi — und der Garde. Ohne den offenen oder heimlichen Spott dieser herauszufordern, ging's nicht ab. Nun — und ob! Wieder griff er nach dem Papier.

      Da klopfte es. Der krummmäulige, bogennasige Bäliälpler, der vorher ein rechter Mann gewesen war, aber seit dem Tod seiner zwei schönen Kinder den Halt verloren hatte, trat ein. Er zog den Hut: »Presi, mich drückt's — in die Geschichte will ich nicht gesponnen sein. Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Ich habe einen Rausch gehabt.«

      »Das war doch nur ein zu weit getriebener Scherz!« erwiderte der Presi heiter; »natürlich kann Seppi nicht behaftet werden, wir müssen halt losen!«

      Er hatte sich im Augenblick entschieden, der Bäliälpler schien ihm wie ein Helfer der Vernunft und er begleitete ihn wie aus Dankbarkeit zur Thüre. Da hörte er Binias glockenhelle Stimme:

      »Nein, nein, alte Susi, zu Fränzi lasse ich mich nicht schicken, Seppi Blatter ist ein wüster Mann, der hat mir 'Schlechthundekind' zugerufen und mich fortgejagt.«

      Der Presi traute seinen Sinnen nicht — horchte — schnob: »Binia, daher!« und zog das Kind, das, nichts Gutes ahnend, flüchten wollte, in sein Zimmer.

      »Wie hat dich Seppi Blatter genannt?« — Die Kleine schwieg. Da rüttelte er sie zornrot und wiederholte keuchend die Frage.

      »Schlechthundekind,« weinte die Kleine leis.

      »Schlechthundekind! Schlechthundekind! Schlechthundekind! Seppi, du mußt ans Brett!«

      Wie ein wildes Tier lief der Presi hin und her, er stampfte, daß man es in der Stube unten hörte. Binia erspähte die Gelegenheit, um aus dem Zimmer zu wischen, wagte sich aber nicht an dem tobenden Manne vorbei, kletterte die kleine Ofentreppe empor, und als der Falldeckel, der auf den Estrich führte, wohl weil er durch Gerümpel verstellt war, dem Druck ihrer kleinen Hände nicht nachgab, verkroch sie sich in ihrer Angst auf den Specksteinofen.

      Da pochte es.

      »Herein!


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