Lebendig!. Michael Herbst
auf diesem Weg folgen. Dann sehnen sie sich danach, dass Menschen in ihrer Nähe Zuversicht und Liebe finden. Wir sind ja kein religiöses Unternehmen zur Steigerung der kirchlichen Absatzstatistik. Wir merken nur zu oft, wie uns unser Herz Streiche spielt. Wir sind tief verstrickt in unsere Beziehungsnöte, da kann diese nicht mit jener und jener wieder nicht mit diesem. Wir wissen das und es ist gefährlich. Doch wenn Gott Liebe ist, dann ist es ein heilloses Unterfangen, eine lieblose Gemeinde wachsen lassen zu wollen. Geht es um Gottes Liebe, dann wird sein Wesen auf uns abfärben. Nicht irgendein warmes Liebesgefühl, nicht eine großzügige Gleichgültigkeit, die jeden so lässt, wie er ist. Nicht eine Liebe als Forderung an den anderen. Sondern eben Liebe nach Gottes Art: voller Hingabe, Mitgefühl, bereit zu vergeben, bereit Opfer zu bringen, bereit zu Neuem herauszufordern, bereit zuzupacken. Gar nicht klebrig, überhaupt nicht billig, keineswegs unser Werk. Aber geboren aus Gott, dessen Wesen Liebe ist.
3. Freude – die kleine Schwester der Gnade
Tief im Westen gibt es eine fünfte Jahreszeit. Da sang in den Nachkriegsjahren Ernst Neger in Mainz ein altes Trostlied für Kinder, die sich wehgetan hatten. Es wurde der berühmteste Karnevalsschlager: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut. Es Kätzje hat e Schwänzje, es ist bald widder gut. Heile, heile Mausespeck, in hunnerd Jahr ist alles weg.«20 In einer Strophe erklärt der Sänger, wenn er jetzt mal der Herrgott wäre, würde er die zerstörte Stadt Mainz in den Arm nehmen: »Heile heile Gänsje, es wird bald widder gut.«
Das Lied bietet Trost, weil es doch irgendwie gut wird, weil in hundert Jahren alles vorbei ist, auch das Schlimme. Es geht vorbei. Es währt nicht ewig. Nichts. Leider auch das Leben nicht, aber eben auch der Schmerz nicht.
Viele Jahre früher sitzen jüdische Männer und Frauen in einer vom Krieg zerstörten Stadt. Jerusalem liegt in Schutt und Asche. Notdürftig haben sie unter Nehemias Führung die Stadtmauer wieder aufgebaut. Viel Flickschusterei, mehr Lücke als Mauer. Jetzt kommen sie zusammen, und Esra, ihr Prediger, ergreift das Wort. Die Stimmung ist gedrückt, man sieht mehr Zerstörung als Aufbau, man fühlt mehr Kümmernisse als Freude, man hat ringsum mehr Feinde als Freunde. Und Esra sagt nicht: »Heile, heile Gänsje«. Er beschwört auch nicht die Vergänglichkeit als Trost. Esra ist nicht Ernst Neger, er ist ein in der Bibel verwurzelter Tröster und Seelsorger. Und er wagt etwas Ungeheures: Er redet von der Freude. Er verbietet geradezu die kümmerliche Stimmung. Raus, ihr Trauergeister! »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke« (Nehemia 8,10).
Thema Nr. 1 des geistlichen Trainings für lebendige und mündige Christenmenschen ist Freude. Zielpunkt Nr. 1 unserer inneren Veränderung ist Freude. »Weicht Ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, kommt herbei.«21 »Seid nicht bekümmert; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke!« Darum geht es in der Nachfolge! Gott versorgt lebendige und mündige Christen mit einem Lebenselixier: der Freude!
Was wir von der Freude wissen sollten
Freude ist ein intensives, ein helles und starkes Empfinden, und zwar als innere Resonanz auf etwas Gutes, das uns widerfährt. Freude ist der Hüpfer, den unser Herz macht. Freude überrascht uns. Freude zieht die Mundwinkel und die Augenmuskeln nach oben. Freude ist ein Kribbeln im Bauch. Freude lässt die Sonne aufgehen.
Es ist völlig klar, es gibt tausend Gründe, sowohl für die Freude als auch für ihr Gegenstück, den Kummer. In der Regel denken wir hier zuerst an äußere und irdische Gründe. Und die sind keineswegs zu verachten: ein sonniger Tag nach vielen grauen vernebelten Wochen, eine Frühlingsblume, ein Sieg meiner Mannschaft, frische Brötchen mit Himbeermarmelade, große Dinge, eine bestandene Prüfung, die bevorstehende Hochzeit, die Geburt eines Kindes. Äußere und irdische Gründe: Wenn sie sich einstellen, freuen wir uns – und es ist recht so.
Daneben stehen immer auch die äußeren und irdischen Gründe für großen Kummer, für Sorge, Trauer, ein bedrücktes Inneres. Und die sind alles andere als harmlos: das Alleinsein, die Sorge um den Frieden, Krankheit, eine gefährdete Ehe, zu viel oder zu wenig Arbeit, die Angst vor dem, was kommen könnte. Unser innerer Pegelstand wandert rauf und runter, runter und rauf. Freude und Kummer, mal so, mal so. Das alles ist groß und stark, auch für Menschen, die Gott vertrauen.
Aber Nehemia und Esra sprechen nicht davon, wenn sie den Kummer vor die Tür weisen und der Freude die Tür öffnen. Es geht ihnen offenbar um eine andere Art der Freude. Diese Freude ist tief, stark, hell, leuchtend, warm. Und diese Freude scheint vor allem enorm unempfindlich zu sein, wie eine Super-Hardshell-Jacke, die Wasser und Wind abweist. Eine Freude, die nicht abhängig ist von den äußeren und irdischen Umständen. Eine Freude, die sich in uns so verwurzelt, dass sie unzerstörbar erscheint. Eine Freude, die vor Schmerz nicht kapituliert und in der Tiefe noch leuchtet. Die äußeren Umstände in Jerusalem gaben wenig Anlass zu solcher Freude. Und doch sagen Nehemia und Esra: Hört auf mit dem Kummer, Freude steht bereit, und sie macht euch stark. Hier möchte man gleich rufen und fragen: »Ja, liebe Leute, wie soll das denn gehen?« Manche haben es mit der Freude leichter, andere schwerer, ich bin bestenfalls im ersten Lehrjahr, wenn es um die Freude geht.
Aber das ist ja gerade das Originelle an Esras Rede! Uns wird hier etwas Ungewöhnliches angeboten: Es gibt für ganz normale Menschen eine solche widerständige, starke, bleibende und beständige Freude. Für die seelisch heller Gestimmten und für die seelisch dunkler Gestimmten: eine Freude, die zur Grundmelodie des ganzen Lebens wird, egal wie die Umstände aussehen. Nur: Wie soll das gehen?
Vorerst setzen Esra und Nehemia noch eins drauf. Sie reden ja im Modus der Anweisung: »Seid nicht bekümmert!« Sie gebieten, befehlen, ordnen an. Mancher ist der Ansicht, dass man Freude »nicht befehlen kann«. Doch die Bibel sieht das anders. Paulus schreibt den Philippern: »Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört! Ich sage es noch einmal: Freut euch!« (Philipper 4,4). Aufforderung, Modus: Imperativ!! Die angemessene Reaktion darauf finden wir bei einem kleinen Propheten, Habakuk, am Rand des Alten Testaments. Der sagt: »Ich will mich freuen des Herrn und fröhlich sein in Gott, meinem Heil. Denn der Herr ist meine Kraft« (Habakuk 3,18-19).
Es hat demnach auch etwas mit Entscheidung (»Ich will«) und Übung zu tun, ob ich mich freue oder nicht. Offenbar kann ich der Freude die Tür öffnen und den Kummer vor die Tür weisen. Offenbar kann ich das Leben so leben, dass Freude Raum findet. Das fängt schon bei den äußeren und irdischen Dingen an: Gehe ich achtlos mit Gottes kleinen und großen Geschenken um oder genieße ich aufmerksam, was er mir schenkt? Als Lehrling im ersten Lehrjahr der Freude habe ich mir angewöhnt, an jedem Tag in mein Tagebuch einen Satz zu schreiben: »Wofür ich heute danken kann …« Ich kann dem Empfinden eine Tür öffnen oder verschließen. Ich bin mir nicht willenlos ausgeliefert. Gott will mir einen Weg zu einer stabilen Freude zeigen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber ich finde das ungeheuer verlockend und bin zugleich ziemlich weit davon entfernt.
Warum die Freude am Herrn uns stark macht
Esra und Nehemia stellen uns diese Freude noch etwas näher vor: Es ist die Freude am Herrn. Paulus formuliert es so: »Freut euch immerzu, weil ihr zum Herrn gehört.« Und Habakuk schreibt: »Ich will mich freuen des Herrn.« Es ist Gottes Freude. Darum geht es hier. Können wir uns Gott fröhlich vorstellen? Gott als das froheste Wesen im Universum? Gott sieht sich seine Schöpfung an und sagt nicht schwäbisch: »Isch scho recht«, also: »Wird seinen Zweck erfüllen.« Er redet göttlich, Freude schöner Götterfunken: »Es ist sehr gut.«
Jesus spricht mehrfach über die Freude im Himmel, wenn ein einziger Mensch umkehrt (vgl. Lukas 15,7+10). Wenn Sie sich Gott wieder zuwenden, dann jubelt der Himmel, dann macht Gottes Herz einen Satz. Sie sind Grund genug für göttliche Freude. Wenn Sie wieder einmal ankommen und im Himmel anklopfen, heißt es nicht: »Ach der schon wieder!«, sondern dann braust der himmlische Jubel auf. Freude!
Wie kommt nun solche Freude in unser Leben? Es ist als Erstes Freude über den Herrn. Damals in Jerusalem war bei einer Predigt von Esra etwas Bemerkenswertes