Ravenhurst. Sandra Bäumler

Ravenhurst - Sandra Bäumler


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dass es zweckmäßig wäre, den Küchenofen als einzige Wärmequelle zu nutzen.

      »Wissen Sie, als Kind habe ich viel Zeit hier unten verbracht, mich vor meiner Gouvernante im Vorratsraum versteckt oder Teig genascht, wenn Mrs Ross Kuchen backte. Hach, ihre Kuchen waren wirklich die besten.« Ich trank einen Schluck Tee.

      »Ja, Mrs Ross Kochkunst vermisse ich wirklich sehr. Meine ist doch sehr stümperhaft.« Anne, die mir gegenübersaß, sah von ihrer Näharbeit auf.

      »Seien Sie nur nicht so bescheiden. Der Eintopf heute war wirklich vorzüglich. Im Gegensatz zum mir sind Sie eine wahre Meisterin. Bisher schaffe ich es nur, Wasser zum Kochen zu bringen«, sagte ich.

      »Vergessen Sie nicht, Sie haben heute zum ersten Mal Gemüse geschnitten und Ihre Sache sehr gut gemacht.«

      »Das ist wirklich zu viel des Lobes, für diese kleine Schnippelei.« Mir entkam ein Lachen, doch als mir wieder einfiel, warum die vergangenen Wochen so viel Ernst erfordert hatten, erstarb es. Unruhig ging mein Blick zur Wanduhr, deren lautes Ticken von der Vergänglichkeit der Zeit kündete. Mit jeder Stunde, die verstrich, wurde ich nervöser. Vielleicht hätte ich Graves Angebot doch nicht annehmen sollen. Gab es wirklich keine bessere Lösung? Das Schrillen der Türglocke erschreckte mich so sehr, dass ich den Inhalt der Tasse über meinen Rock verschüttete.

      »Ach herrje, wie ungeschickt ich bin«, schimpfte ich.

      »Warten Sie.« Anne schob ihren Mantel, an dem sie gerade Knöpfe festgenäht hatte, zur Seite und holte einen Lappen. Wieder schrillte die Glocke.

      »Würden Sie bitte öffnen, ich kümmere mich um meinen Rock.« Ich stellte die Tasse weg, nahm ihr das Tuch ab und begann damit, den nassen Fleck zu behandeln.

      »Natürlich.« Anne hastete aus dem Raum. Die Dienstbotentür war nicht weit, ich hörte eine männliche Stimme. Es war ein Kurier, der einen Brief überbrachte. Vergessen war der Teefleck auf meinem Rock, schnell warf ich den Lappen auf den Tisch und erhob mich. Schon kam mir Anne entgegen.

      »Das Schreiben ist von Spaulding«, informierte sie mich und reichte es mir. Mit zittrigen Fingern öffnete ich das Kuvert.

      »Sehr verehrte Lady Warrington, Mister Graves ist hoch erfreut darüber, dass Sie seinen Antrag angenommen haben. Es wird in drei Tagen um neun Uhr am Morgen eine Kutsche vor Ihrem Haus bereit stehen …« Ich blickte zu Anne. »Wir haben effektiv nur noch heute und morgen, um unsere Habe zu packen. Denn am Montagmorgen müssen wir fertig sein.«

      »Dann sollten wir damit beginnen, wenn Sie es wünschen.«

      »Ich wünsche es«, erwiderte ich, straffte meine Schultern und faltete das Schreiben zusammen. Ich würde keinen Rückzieher machen, ich stand zu meinem Wort und hoffte, dass Mister Graves dies auch tat.

      Die folgenden Tage verbrachten wir mit Packen, nur unterbrochen vom sonntäglichen Kirchenbesuch. Wenn man Koffer für eine Reise mit seinem Vater packte, war das eine Sache, doch wenn man seine Dinge zusammensuchte, um in ein neues Zuhause zu ziehen, war dies etwas ganz anderes. Ich versuchte mich nur auf das Notwendigste zu besinnen, aber alles erschien mir mit einem Mal immens wichtig zu sein. Vor allem, da ich keine Kenntnis darüber besaß, wie Mister Graves eingerichtet war. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, in welchem Teil Englands er lebte. Oder hatte er sein Domizil gar auf dem Kontinent? Darüber hatte ich mit Mister Spauldings gar nicht gesprochen. Vielleicht korrespondierte Graves deswegen nur schriftlich mit ihm, weil er gar nicht in England lebte. Es war wirklich nachlässig von mir gewesen, dies nicht zu erfragen.

      Schlussendlich, nach langem Hin und Her, stand unser Gepäck abholbereit in der großen Halle, am Fuße der Treppe. Es war gar nicht einfach gewesen, die Koffer nur zu zweit und ohne männliche Unterstützung herunterzutragen.

      »Es ist bald neun«, informierte mich Anne.

      »Ist gut, ich komme gleich.« Langsam schritt ich durch das Arbeitszimmer meines Vaters. Ich hatte es seit dessen Auffinden an diesem verhängnisvollen Morgen nicht mehr betreten. Sämtliche Spuren seines gewaltsamen Todes waren beseitigt worden, alles schien wieder in bester Ordnung zu sein. Das tiefe Loch in meinem Herzen, das er hinterließ, würde jedoch niemals verheilen. Mit seinem Freitod hatte er mich um so viele Stunden mit ihm schändlich betrogen.

      »Ich werde jetzt gehen Vater«, sagte ich mit belegter Stimme, in der Hoffnung, sein Geist könnte mich hören. Im Hintergrund vernahm ich, wie Anne die Haustür öffnete.

      »Wo auch immer du bist, ich liebe dich.« Eilig, um dem Damm der meine Tränen hielt nicht die Chance zu geben zu brechen, stürmte ich aus dem Zimmer, einer neuen Zukunft entgegen.

      »Mister Mason wird mit uns kommen«, informierte mich Anne, trat zur Seite und ich stand vor Spauldings Sekretär, der wie immer sehr überheblich dreinblickte.

      »Ich bin angenehm überrascht, dass Sie uns begleiten«, sagte ich höflich.

      »Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite. Es ist nicht schicklich, wenn Damen ohne männliche Begleitung reisen. Zudem habe ich noch Papiere für Mister Graves und ich freue mich Ihnen sagen zu können, dass er ihrem Anliegen zugestimmt hat und ihre Zofe mitkommen kann, da er sowie eine Kammerdienerin für Sie hätte einstellen müssen. Ist dies Ihr Gepäck?« Mason deutete zu den Koffern vor der Treppe.

      »Ja.« Ich nickte, war ungeheuer über Graves Zustimmung in Bezug auf Anne erleichtert. Aber auch wenn er Nein gesagt hätte, wäre sie mitgekommen. So einfach hätte ich nicht klein beigegeben.

      »Dann hole ich den Kutscher, er soll beim Einladen helfen«, erwiderte Mason und ging zur Tür.

      Nachdem das Gepäck verladen war, brachte uns die Kutsche zum Bahnhof. Mason war gar nicht erfreut darüber gewesen, als ich darauf bestand, Anne in der Kutsche mitfahren zu lassen und nicht neben dem Kutscher, wie es sich für Dienstboten geziemte. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich sicher, was ich bisher aufgrund seines Benehmens nur erahnt hatte. Ich fand diesen Mann, der selbst nur ein kleiner Angestellter war und trotzdem solcherlei Allüren an den Tag legte, wenig sympathisch. Auch im Zug setzte ich durch, dass Anne neben mir in der ersten Klasse saß. Mason hatte uns gegenüber Platz genommen. Er führte nur wenig Gepäck mit sich, einen kleinen Reisekoffer und Aktentasche, die er auf den freien Platz zu seiner Rechten legte. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er seine Nasenwurzel, schloss die Augen. Ich blickte aus dem Fenster, die Landschaft zog schneller an uns vorbei als Vögel über den Himmel schwirrten. Wenn ich richtig lag fuhren wir in Richtung Süden. Unentwegt fragte ich mich, ob ich das Richtige tat.

      4. KAPITEL

      Gegen drei Uhr nachmittags erreichten wir den Bahnhof von Exeter in Cornwall. Kofferträger kümmerten sich um das Gepäck. Ein Mann bekleidet mit Kutschermantel und Zylinder musterte uns von oben bis unten, die buschigen Brauen zusammengezogen, was ihm ein mürrisches Aussehen verlieh.

      »Verzeihen Sie, Sir«, sprach er Mason an. »Ich bin Clark, der Kutscher von Mister Graves, gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie Lady Warrington begleiten?« Der Blick des Kutschers streifte mich, als er meinen Namen sagte.

      »Ja, dies haben Sie richtig erkannt, guter Mann«, bestätigte Mason.

      »Bitte kommen Sie, der Wagen steht direkt vor dem Eingang.« Der Kutscher schritt in die genannte Richtung, ich zögerte, sah zu den Trägern, die beladen mit unseren Koffern dastanden und auf Anweisungen warteten.

      »Gehen Sie ruhig, Lady Warrington, ich beaufsichtige das Gepäck«, meinte Mason, worauf ich dem Kutscher folgte. Anne und ich traten vor den Bahnhof. Im Süden Englands war es um einiges wärmer als in London, es gab bei weitem nicht so viel Schnee. Wie Puderzucker lag er über der Stadt. Graves Bediensteter hielt bereits die Kutschtür auf. Ich raffte meine Röcke und stieg ein. Anne setzte sich neben mich. Dieses Mal ersparte sich Mason jedwede Diskussion darüber, wie Bedienstete zu reisen hatten, und nahm es wortlos hin. Währenddessen brachten die Träger das Gepäck, das auf dem Dach verstaut wurde. Nachdem Mason ebenfalls eingestiegen war, gab der Kutscher den Rössern die Peitsche und wir fuhren los.

      Die lange Zugreise saß mir mächtig


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