Verlorenes Land. Andreas M. Sturm

Verlorenes Land - Andreas M. Sturm


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sollte mich daran hindern?«, beeilte er sich zu sagen.

      Sabine blickte ihm ernst in die Augen und nickte dann. »Ich weiß, dass du ein ehrlicher Kerl bist, sonst würde ich dich links liegen lassen.« Sie trat an die Ruine heran, bückte sich und entzündete ihre Kerze an der Flamme einer anderen. Dann hielt sie die Kerze mit fachmännischem Blick schräg und tröpfelte Wachs auf einen der großen Trümmersteine. Ein kurzer Druck ihrer kleinen Faust, und die Kerze stand. Sich wiederaufrichtend faltete sie die Hände und stand lange Zeit still da.

      Uwe fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Bisher hatte er immer gedacht, dass Beten etwas für Spinner sei. Doch inmitten all der Menschen und vor diesem Lichtermeer kam es ihm auf einmal richtig vor. Er rückte ganz dicht an Sabine heran, schloss die Augen und fühlte sich zu seiner Überraschung geborgen.

      Ein Boxhieb in seine Seite holte ihn jäh in die Gegenwart zurück. »Wenn du so weitermachst, schmeißen dich die Bullen aus ihrem Verein.« Jetzt war es Sabine, die sich vorsichtig umschaute und ihre Blicke prüfend über die Gesichter gleiten ließ. Mit entschiedener Miene hakte sie sich bei ihm ein und zog ihn fort. »Lass uns gehen. Glaub mir, es ist besser so.«

      Uwe setzte zu einem Protest an, Sabine meinte es jedoch ernst. »Hältst du mich für blöd? Ich weiß doch, weshalb du dich unter die Leute gemischt hast.« Ohne auf seinen gemurmelten Protest einzugehen, beschleunigte sie ihr Tempo und schleifte ihn schnurstracks in Richtung Augustusstraße.

      Inzwischen war sie in einen regelrechten Sturmschritt verfallen. Vorbei am Fürstenzug zerrte sie Uwe zur Brücke. Erst auf dem gegenüberliegenden Ufer blieb sie stehen. Sie ließ ihn los, baute sich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Seiten. »Sag mal, schnallst du es nicht? Du hast gerade deinen Job riskiert. Wenn dich eins von den Stasi-Schweinen gesehen hat, bist du geliefert.«

      »Mach mal halblang«, versuchte Uwe sie zu bremsen. »Ich hab doch gar nichts getan.«

      »Ja, eben! Das ist es ja.« Ihr Zeigefinger tippte nachdrücklich auf seine Stirn. »Denk mal drüber nach!«

      Oh, oh, dachte Uwe, die kleine Katze fährt ihre Krallen aus. Und wie ihre Augen blitzen! Er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Nach einer Sekunde des Zögerns traute er sich das. »Du hast vollkommen recht«, flüsterte er in ihre Haare. »In Zukunft bin ich vorsichtiger.«

      »Das will ich dir auch geraten haben«, flötete sie in honigsüßem Ton. »Und weil du so einsichtig bist, darfst du mich nach Hause bringen.«

      Ein warmes Gefühl stieg in Uwe auf, als er spürte, dass sie sich noch fester an ihn kuschelte. Er wusste, dass sein Grinsen dem eines debilen Schaukelpferds glich, das war ihm allerdings wurscht, er wollte nichts weiter, als ewig so stehen bleiben.

      Schließlich kam Bewegung in Sabine. Sie schlängelte sich aus seiner Umarmung und grinste ihn frech an. »Bild dir bloß nichts ein. Mir ist einfach nur kalt.«

      »Warum machst du dir eigentlich Gedanken darüber, ob ich meine Arbeit behalte?«

      Sabine sah ihn offen an. »Ich habe in deinen Augen gesehen, dass du aufrichtig bist. Das sind nicht alle Polizisten, weißt du. Und heutzutage zählt jeder Einzelne.«

      Sabines Unverblümtheit beeindruckte Uwe. Verblüfft nahm er zur Kenntnis, dass sich hinter ihrer lockeren Art ein scharfer Verstand verbarg, der aufmerksam seine Umwelt beobachtete und analysierte.

      Beide liefen schweigend und in ihre Gedanken vertieft weiter. Auf dem Platz der Einheit überraschte sie ihn erneut. Sie schmiegte sich an ihn und ergriff seine Hand. »Lass uns schnell über die Straße gehen.« Ein Schaudern schwang in ihrer Stimme.

      Alarmiert schaute sich Uwe um. Keiner der wenigen Passanten wirkte bedrohlich auf ihn. Er blieb stehen und musterte sie fragend. »Was ist los?«

      »Tut mir leid. Das passiert mir an diesem Ort ständig.« Sie deutete auf das sowjetische Ehrenmal. »Hast du dir dieses Monstrum schon mal genau angesehen?«

      Uwe versuchte, sich seine Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Da stehen zwei Rotarmisten auf einem Sockel. Was macht dir daran Angst?«

      »Der, der die Fahne hält, wirft eine Handgranate, der andere zielt mit seinem Maschinengewehr auf einen imaginären Gegner. Genau so war es am 17. Juni 1953. Da haben solche Soldaten gewaltsam den Arbeiteraufstand niedergeschlagen. Ich empfinde dieses Machwerk als ständige Drohung, es nicht noch mal zu versuchen, an der von Moskau verordneten Regierungsform zu rütteln.« Sabine drehte sich um und ging einfach fort.

      Uwe beeilte sich, sie einzuholen. In ihrem Leben musste eine ganze Menge schiefgelaufen sein, dass sie so eine negative Haltung zu unserem Staat entwickelt hatte, fuhr es Uwe durch den Kopf. Na ja, solche Irrtümer ließen sich leicht korrigieren.

      »Entschuldige, aber das grässliche Machwerk deprimiert mich jedes Mal, wenn ich daran vorbei muss. Komm, wärme mich!« Sie suchte Uwes Hand, und gemeinsam tauchten sie in die Neustadt ein, die nackt und kalt im Mondlicht vor ihnen lag.

      Ermuntert durch Sabine Anlehnungsbedürfnis nahm Uwe seinen gesamten Mut zusammen und stellte ihr die alles entscheidende Frage: »Was sagt eigentlich dein Freund dazu, dass du spät am Abend allein durch die Gegend streifst?«

      »Das fällt dir ja ziemlich zeitig ein «, stichelte sie. »Und weil ich so innig in einen anderen verliebt bin, latsche ich Händchen haltend mit dir durch die Botanik.« Stumm lief sie weiter und gab erst mehrere Minuten später einen glucksenden Laut von sich. Offenbar konnte sie sich das Lachen nur schwer verbeißen. »Hast du es noch nicht kapiert? Ich wandle auf Solopfaden durch die Weltgeschichte. Bisher jedenfalls«, relativierte sie schnell.

      Uwe fiel ein Stein vom Herzen. Ein tiefes Glücksgefühl durchfuhr ihn. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht lief er neben seiner Traumfrau bis zu ihrem Wohnhaus.

      Am Toilettenhäuschen stoppte Sabine und blieb unschlüssig stehen. Sie zog Uwe an sich. »Immer wenn ich hier langgehe, bekomme ich Angst. Der Anblick des Toten verfolgt mich. Habt ihr den Mörder inzwischen geschnappt?«

      Uwe atmete einmal tief durch. »Der Fall ist uns entzogen worden.«

      Während er darüber nachdachte, ob es richtig war, Sabine in dienstliche Angelegenheiten einzuweihen, begann sie vor unbändigem Zorn zu beben. »Stasi!«, spuckte sie das Wort wie etwas Ekelhaftes aus.

      Uwe stutzte, ein schrecklicher Verdacht stieg in ihm auf. Hatte man Sabine auf ihn angesetzt? Sollte das eine Überprüfung seiner Loyalität sein? Hinter vorgehaltener Hand wurde im Polizeipräsidium von derartigen Vorfällen ab und zu gemunkelt. »Woher weißt du das?«, fragte er argwöhnisch.

      Sabine schaute ziemlich verdutzt aus der Wäsche, ehe sie kapierte, was er da eben angedeutet hatte. Dann lief sie rot an, hielt rasch eine Hand vor den Mund, schaffte es jedoch nicht, an sich zu halten. Eingeleitet von einem pfeifenden Laut gab sie schließlich eine Lachsalve von sich, die an den Häuserwänden widerhallte.

      Nach mehreren Minuten öffnete sich ein Fenster und eine erboste Stimme brüllte: »Ruhe da unten!«

      Sabine klappte japsend vornüber, stützte sich mit den Händen ab und ihr kleiner Körper schüttelte sich weiterhin vor Lachen. Nach längerer Zeit gab sie ein keuchendes Schnaufen von sich und streckte Uwe ihre Hand entgegen. Dankbar den Halt ergreifend, zog sie sich hoch und wischte die Tränen weg, die über ihre Wangen strömten. »Guter Witz«, brachte sie hervor und hielt sich nach Luft ringend die Hände auf den Bauch.

      Der anschließende Versuch, ein böses Gesicht aufzusetzen, misslang ihr gründlich. Das freche Leuchten ihrer Augen verriet sie. »Uwe Friedrich, solltest du noch einmal andeuten, dass ich, ausgerechnet ich, ein Handlanger der ›Kalten Hand‹ sein soll, dann ist es gesünder für dich, aus der Reichweite meiner Fäuste zu verschwinden.« Sie schüttelte die geballte rechte Faust vor seiner Nase. »Die ist zwar klein, kann aber verdammt hart zuschlagen.«

      Uwe glaubte ihr aufs Wort. Jedes einzelne Wort! Was hatte ihn bloß geritten, auf eine so absurde Idee zu kommen? Er lächelte reumütig. »Tut mir leid, ich dachte ...«

      »Das


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