Verlorenes Land. Andreas M. Sturm

Verlorenes Land - Andreas M. Sturm


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erwiderte das Lächeln. »Du auch, Ernst. Die Jahre waren gnädig zu dir.« Und das war keine Lüge. Buchmann wirkte drahtig. Man sah ihm die vierundfünfzig Lebensjahre nicht an.

      Buchmann gab dem Fahrer ein Zeichen, und der startete das Fahrzeug.

      Anton lehnte sich behaglich zurück. Die weichen Kunstledersitze waren sanfter zu seinem Rücken als die harte Parkbank. Er hatte es nicht eilig. Buchmann wollte etwas von ihm, nicht umgekehrt.

      Bevor das Schweigen peinlich werden konnte, ergriff Buchmann das Wort. »Du kannst dir denken, weshalb ich gekommen bin. Unser alter Freund Rost wurde erschossen. Und da dachte ich mir, wenn der gute Anton gleich um die Ecke wohnt, dann müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn der mir keine Informationen geben kann.«

      Anton grinste. »Glaub mir, wüsste ich, wer diesem widerwärtigen Kerl die gerechte Strafe erteilt hat, ich würde es dir sagen.«

      Er meinte jedes einzelne Wort ernst. Buchmann schien das zu spüren, dennoch warf er ihm einen Knochen hin. »Du weißt, dass ich dankbar sein kann. Ich bin bereit, für Informationen zu bezahlen, und ich meine damit nicht nur Geld. Gefälligkeiten sind oft viel mehr wert.«

      »Mein Lebenshorizont rückt in greifbare Nähe. Was solltest du mir noch bieten können? Trotzdem danke, aber ich kann dir wirklich nicht helfen, so gern ich es möchte.«

      Buchmann nickte, wobei er ein bedauerndes Lächeln andeutete. »Ich habe es befürchtet. Wo kann ich dich absetzen?«

      Anton schaute aus dem Fenster. Sie waren die Otto-Buchwitz-Straße entlanggefahren, und beidseits der Straße zogen die Bäume der Dresdner Heide vorbei. Sein Zeigefinger beschrieb einen Kreis. »Wieder zurück in die Neustadt, von hier ist es mir zu weit zum Laufen.« Er lachte, doch es klang bitter. Lange war es noch nicht her, dass er Strecken bis zu zehn Kilometern als kurz eingestuft hatte.

      Buchmann beugte sich vor und legte dem Fahrer die Hand auf die Schulter. »Du hast unseren Gast gehört.«

      Stumm wendete der den Wartburg, und die Rückfahrt verlief schweigend. Auf dem Bischofsweg stoppte das Auto. Anton legte seine Hand auf den Türgriff, ein Zungenschnalzen ließ ihn innehalten.

      »Eins noch, alter Freund.« Dr. Buchmann fixierte Anton mit kaltem Blick und legte einen harten Unterton in seine Stimme. »Unsere heutige Begegnung bleibt unter uns. Und sollte dich irgendjemand nach Rost fragen, dann ist es für alle besser, wenn du schweigst.« Er hob die Hand und lächelte zum Abschied.

      Allein auf dem Gehweg starrte Anton dem Wartburg nach. Noch nie hatte er ein beunruhigenderes Lächeln gesehen.

      16

      Die Handflächen auf die steinerne Begrenzungsmauer gestützt, schaute Uwe nachdenklich auf den Neumarkt hinunter. Er stand auf der Brühlschen Terrasse und war dem Gefühlschaos, das in seinem Inneren tobte, hilflos ausgeliefert.

      Bis zum heutigen Tag war er stolz darauf gewesen, bei der Volkspolizei Dienst zu tun. Er hatte es als seine Aufgabe betrachtet, die Werktätigen und ihre Errungenschaften vor kriminellen Elementen zu schützen.

      Seit heute Abend war er sich da nicht mehr so sicher. Die Menschen, die er beschatten sollte, waren keine Bedrohung für den Sozialismus. Friedlich stellten sie vor der Ruine der Frauenkirche Kerzen auf, legten Blumen ab und gedachten der Opfer des Bombenabwurfs auf Dresden. Sie demonstrierten für Frieden und sangen Lieder, die Uwe kannte. Er drehte sich vorsichtig um, ob keiner seiner Kollegen oder einer von der Staatssicherheit hinter ihm stand, dann summte er begeistert We Shall Overcome und Sag mir, wo die Blumen sind mit.

      Nachdem der Gesang verklungen war, löste Uwe seine Handflächen von der Brüstung. Er kam sich mittlerweile ziemlich dumm vor, von oben auf das Geschehen zu starren. Er stieg die Stufen zum Neumarkt hinunter und mischte sich unter die Menge.

      Seine Befehle waren eindeutig. Sobald er staatsfeindliche Aktionen in Form von Transparenten oder lauten Meinungsäußerungen bemerkte, hatte er Verstärkung zu rufen, die Personalien der Unruhestifter aufzunehmen und diese gegebenenfalls zuzuführen. Des Weiteren sollte er versuchen, die Organisatoren der Aktion auszumachen und möglichst unauffällig deren Identität festzustellen.

      Major Günzel hatte diese Anordnungen heruntergeleiert, als wäre er ein Jungpionier, der widerwillig ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagt. Uwe hatte sehr wohl registriert, dass es der Chef dabei nicht vermocht hatte, seinen Leuten in die Augen zu sehen. Der letzte Befehl schien dem Major am meisten zugesetzt zu haben. Sein verkniffener Mund hatte die Worte mit mühsam unterdrückter Wut herausgepresst. Jeder der Einsatzkräfte, der in der Menge einen Bekannten entdeckte, sollte auch den melden.

      Inzwischen war die Menschenansammlung weiter angewachsen. Uwe schätzte sie auf weit über fünftausend. Die Leute, die sich um ihn herum drängten, wirkten ernst und gleichzeitig ergriffen. Die Gemeinsamkeit ihres Willens, gegen jede Form der Kriegstreiberei auf die Straße zu gehen, vereinte sie. Und alle waren freiwillig gekommen. Bei diesem Gedanken stutzte Uwe. Es war etwas ganz anderes, als er es von den staatlich verordneten Demonstrationen her kannte.

      Er erinnerte sich gut daran, dass er während seiner Grundausbildung zu den Aufmärschen am 1. Mai und am 7. Oktober als Fahnenträger eingeteilt gewesen war. Der zuständige Offizier hatte, bewaffnet mit der Liste aller Auszubildenden, am Treffpunkt gestanden. Uwe hatte beim Abfassen der Fahne und nach der Demonstration beim Abgeben jeweils ein Kreuz bekommen. Hätte bei der Auswertung eins oder gar beide Kreuze gefehlt, wären Disziplinarmaßnahmen über ihn hereingebrochen.

      Ein bekanntes Gesicht, das sich plötzlich vor Uwe aus der Menschenmasse schälte, beendete den kurzen Ausflug in die Vergangenheit. Holger Korn, ein Schulfreund, mit dem er heimlich Kaugummibilder aus dem Westen getauscht hatte, kam strahlend auf ihn zu.

      Freudig nahm Holger ihn in den Arm. »Das glaub ich ja nicht.« Er lachte leise. »Und das bei deinen Eltern. Die waren doch so rot. Hat sich das gegeben?«

      Uwe hätte im Boden versinken können. »Eher nicht«, stammelte er.

      »Na ja, das wird schon noch«, verkündete Holger und grinste. Er drückte Uwe ein paar Aufkleber in die Hand. »Für deine Freunde.«

      Ratlos drehte Uwe den Sticker in den Händen. Um eine schematisch dargestellte Figur standen die Wörter »Schwerter zu Pflugscharen«.

      »Mein Gott!«, Holger sah ihn verblüfft an. »Es laufen immer noch Leute herum, die davon noch nichts gehört haben.« Er schlug Uwe auf die Schulter. »Informiere dich! So, ich muss weiter. Viel Spaß noch. Freue mich, dass du hier bist.« Nach einem fröhlichen Winken verschluckte ihn die Menschenmenge.

      Hastig steckte Uwe die Aufkleber in die Tasche. Nicht auszumalen, wenn ein Kollege ihn damit sehen würde! Ludwig zum Beispiel. Bei seiner Karrieregeilheit kannte der weder Freund noch Feind.

      So, als wäre er Holger nie begegnet, drängte sich Uwe weiter durch die Menschen. Trotz der Massen war es erstaunlich ruhig. Fast alle schwiegen und die, die sich unterhielten, taten das leise.

      Mit einem Mal glaubte Uwe, er wäre in einen schwülstigen Liebesfilm katapultiert worden. Er kniff die Augen zusammen und riss sie gleich darauf weit auf. Tatsächlich, keine fünf Meter vor sich sah er Sabine. Erfreut stellte er fest, dass sie kein Traumbild sein konnte. In Träumen oder Filmen schwebten die schönen Frauen oder wenigstens schritten sie. Der kleine Wirbelwind dagegen war sehr zielstrebig unterwegs. Entschlossen kämpfte sich Sabine mit einer Kerze in der Hand durch die Menge.

      Ohne zu zögern, startete Uwe durch. Ihm war eine zweite Chance geboten worden, und die würde er nicht ungenutzt verstreichen lassen. Mithilfe seiner Ellbogen durchpflügte er die Demonstranten und holte Sabine noch vor der Ruine ein. »Hallo, so trifft man sich wieder.« Er überspielte seine Verlegenheit durch ein lockeres Grinsen.

      Sabines Lippen öffneten sich ungläubig, dann lachte sie und sah gleich noch hübscher aus. »Das haut mich jetzt von den Socken. Darfst du eigentlich hier sein?«

      Langsam war Uwe es leid, dass ihn jede Begegnung in die Defensive drängte. Er war doch kein Spitzel! Aber sofort zuckte er innerlich zusammen, seine Befehle sprachen


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