Verlorenes Land. Andreas M. Sturm

Verlorenes Land - Andreas M. Sturm


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seinen Fingern. »Wenn ihr keine einflussreichen Personen verärgert habt, muss etwas anderes dahinterstecken. Etwas, das zu beeinflussen nicht in unserer Macht steht.« Er schmiss den Kuli wütend in die Stiftschale. »Der Fall Rost ist uns entzogen worden. Ab sofort übernimmt die Staatssicherheit. Ihr packt sämtliche Akten zusammen und bringt sie ins Sekretariat.«

      Uwe war fassungslos, dachte kurz nach und setzte eine rebellische Miene auf. »Und wenn wir bloß ein wenig auf eigene Faust ...«

      Krachend schlugen die Handflächen des Majors auf die Tischplatte. »Denkt nicht mal daran! Das ist keine Bitte gewesen, sondern ein Befehl!«

      Uwe und Ludwig schwiegen. Uwe verstockt, Ludwig gleichgültig.

      Es fiel Günzel nicht schwer, ihre Mienen zu deuten. »Damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt«, er fixierte Uwe drohend, »habt ihr heute Abend einen Einsatz. Punkt 17 Uhr meldet ihr euch bei mir auf dem Neumarkt, vor der Ruine der Frauenkirche. Wie ihr wisst, schreiben wir heute den 13. Februar. Wir sollen gemeinsam mit den Genossen der Staatssicherheit dafür sorgen, dass keine konterrevolutionären Elemente das Gedenken der Dresdner stören. Und jetzt zurück an die Arbeit. Ich denke, ihr habt noch jede Menge ungeklärter Fälle auf dem Schreibtisch.«

      Wie zwei geprügelte Hunde schlichen seine Ermittler aus dem Büro.

      14

      Zurück im Büro verarbeitete jeder der beiden Ermittler auf seine ganz spezielle Art den Entzug des Falles. Mit einem gleichgültigen »Scheiß drauf, war sowieso ein bekackter Fall« packte Ludwig sämtliche Berichte in einen Karton und trug den zum Sekretariat.

      Uwe dagegen war maßlos enttäuscht, nahm sich eine Mappe vom Aktenstapel der ungelösten Fälle und begann lustlos darin zu blättern. Doch sosehr er sich bemühte, die Wörter verschwammen vor seinen Augen, und seine Gedanken kehrten ständig zu dem Mordfall Rost zurück.

      Im Gegensatz zu seinem Kollegen war er der Meinung, dass die Ermittlungen sich nicht festgefressen hatten. Er fand, dass mehrere vielversprechende Ansätze vorlagen. Da waren Rosts Affären, die bisher im Verborgen liegende Quelle, aus der er seine Antiquitätensammlung finanziert hatte, und das merkwürdige Verhalten der Höntsch. Sein Bauchgefühl sagte ihm, wenn sie nur tief genug im Dreck wühlten, würden sich sowohl das Mordmotiv als auch der Täter wie Goldkörner aus dem Sand herauskristallisieren.

      Natürlich musste er akzeptieren, dass er eine Variable nicht in seine Rechnung einbeziehen konnte. Und die war womöglich von so großer Bedeutung, dass sie all seine bisherigen Überlegungen für null und nichtig erklärte. Wenn die Staatssicherheit sich den Fall unter den Nagel riss, lag offensichtlich ein schwerwiegender Anlass vor. Es wurmte Uwe sehr, dass man ihm niemals Einblick in die Hintergründe gewähren würde. Der bloße Gedanke an seine Ohnmacht spülte eine Woge der Frustration in ihm hoch.

      Und es gab noch einen weiteren Grund, der ihm die Laune gründlich vermieste. Hatte er doch sehnsüchtig gehofft, dass ihm die Ermittlungen die Möglichkeit bescheren würden, erneut bei Sabine vorbeizuschauen. Einfach so bei ihr zu klingeln, dafür fehlte ihm der Mut.

      Seit gestern huschte die hübsche Frau durch seine Tag- und Nachtträume, schlich sich in jeden Gedanken, und ihre graugrünen Augen leuchteten bis tief in seine Seele.

      Er hätte sich ohrfeigen können, dass er nicht wenigstens in Erfahrung gebracht hatte, ob sie in festen Händen war. Ein müdes Lächeln kräuselte seine Lippen. Das war inzwischen egal, vermutlich würde er sie ohnehin nie wiedersehen.

      15

      Anton Jäger fühlte sich wie ausgekotzt. Eine tiefe Erschöpfung lähmte seine Muskeln und rasende Kopfschmerzen verhinderten jeden klaren Gedanken. In der letzten Nacht hatte er kein Auge zugetan. Hatte sich mit den Dämonen der Vergangenheit herumgeschlagen und viel zu viel Wodka in sich hineingeschüttet. Der Rauch zahlloser Zigaretten schien ihm die Luftröhre abzudrücken.

      Verborgen hinter der Gardine hatte er den gesamten Vormittag in den tristen Innenhof hinabgestarrt. Die Polizisten waren im Haus ein und aus gegangen. Bei ihm hatten sie auch geläutet, mehrmals. Bei jedem Klingeln war er zusammengezuckt, aber die unsägliche Angst hatte ihn auf seinen Stuhl gebannt. Sie war stärker als das Gewissen.

      Am frühen Nachmittag verschwand die Polizei, so, als ob hier nie ein Verbrechen begangen worden wäre. Anton, der sich gerade Kaffee gekocht hatte, konnte sich denken, was da ablief. Mit dieser Entwicklung hatte er gerechnet.

      Er hob den Blick zum Himmel, als suchte er Kraft. Hoffte, innere Ruhe zu finden, um seinen wirren Überlegungen eine Richtung zu geben. Doch die Wände setzten seinen Gedanken Grenzen. Bewegung würde helfen! Bewegung ohne störende Barrieren. Frische Luft würde die Lungen lüften und den Nebel aus dem Kopf vertreiben.

      Ein letzter Blick aus dem Fenster, der Hof lag menschenleer. Anton nutzte die Gelegenheit, schlüpfte in seine Winterstiefel, zog den Mantel über und stieg, so leise er es vermochte, die Treppen hinunter.

      Sein Weg führte ihn durch einheitsgraue Straßenzüge. Es stank nach Abgasen, Müll und Vernachlässigung. Anton kämpfte seine Schwäche nieder und zwang sich, schneller zu gehen. Er musste raus aus diesen Schluchten, deren Wände und Mauern ihn zu erdrücken drohten.

      Aufatmend erreichte er den Platz der Thälmannpioniere und zog seine Runden über die Wege, welche die Anlage durchschnitten. Anton steigerte sein Tempo, um ins Schwitzen zu kommen. Der Schweiß würde das Gift der vergangenen Nacht aus seinem Körper spülen.

      Nach einer halben Stunde war er völlig ausgelaugt, schaffte es gerade noch zu einer Bank und ließ sich nach Atem ringend darauf nieder. Sein Herzschlag drohte ihm die Brust zu sprengen, das Blut rauschte rhythmisch in seinen Ohren.

      Kraftlos wie ein Kleinkind wartete Anton ab, bis die Schwäche verging. Derartige Ausfälle häuften sich in letzter Zeit. Er tat es stets mit einem Schulterzucken ab, je eher es vorbei war, umso besser.

      Während sich sein Herzschlag normalisierte, schaute er zu den Häusern hinüber, die den Bischofsweg säumten. Das Schicksal des langsam verfallenden Viertels ließ etwas in seinem Inneren zerbrechen. Er wusste um die Ursache: Die Parteiführung hatte die Neustadt aufgegeben und somit dem Untergang geweiht.

      Anton gelang es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Vor dem Krieg war die Äußere Neustadt ein Stadtteil voller wunderschöner Bauten aus der Gründerzeit gewesen, in dem das Leben pulsiert hatte. Jetzt war das Viertel verlorenes Land.

      Das Rascheln einer Zeitung setzte Antons wehmütigen Gedanken ein Ende. Auf der Nachbarbank hatte ein Mann Platz genommen, der in der Sächsischen Zeitung blätterte.

      Tief in Antons Kopf leuchteten Lichter auf, als fuchtelten seine Gehirnzellen mit Fackeln herum, um ihn zu warnen. Er lächelte sarkastisch. Seine Synapsen hatten noch nicht geschnallt, dass keine Eile mehr erforderlich war. Die Zeiten des Aufspringens und Weglaufens waren seit Jahren Geschichte.

      In aller Ruhe wandte sich Anton dem Mann zu. »Wollen Sie nur wissen, wohin ich gehe, oder möchte mich jemand sprechen?«

      »Bitte?« Seine Verblüffung wirkte täuschend echt.

      »Kommen Sie, wir sind beide Profis. Bringen wir es hinter uns.« Anton tat sein Bestes, trotz der Angst zu lächeln.

      Der sportliche junge Mann schlug seine Zeitung zusammen und nickte mit ausdruckslosem Gesicht. »Nach Ihnen.« Seine Handbewegung war energisch und ließ keinen Zweifel darüber, dass er Anton keine Wahl ließ.

      Ohne an Widerstand zu denken, zuckelte Anton vor dem Mann zur Straße. Ein kurzer Stoß in den Rücken zeigte ihm den Weg zu einem gelben Wartburg Tourist. Noch bevor er das Fahrzeug erreichte, öffnete sich eine der Hintertüren. Anton kannte das Prozedere und stieg ohne Umstände ein. Er hatte ohnehin keine Wahl. Als er den Mann neben sich erkannte, fühlte er sich geschmeichelt. Dr. Buchmann hatte sich persönlich herbemüht.

      Sein ehemaliger Vorgesetzter nickte ihm freundlich zu. »Es ist lange her, Anton. Siehst gut aus.«

      Lügen kann er immer noch perfekt, fuhr es Anton durch den Kopf.


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