Verlorenes Land. Andreas M. Sturm

Verlorenes Land - Andreas M. Sturm


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leichte Verstimmung machte sich in ihr breit. Da hatte doch nicht etwa irgendein Assi Müll abgeladen? Aber egal, was da lag, ihr Geschäft war dringender.

      Fünf Minuten später beugte sich Sabine neugierig über den verdächtigen Haufen. Das Tageslicht hatte an Kraft gewonnen, und der bisher formlose Gegenstand nahm Gestalt an.

      Sabine benötigte einen Moment, bis sie realisiert hatte, was da lag. Zischend zog sie die Luft ein.

      Nach einer Schrecksekunde kam sie zur Besinnung. Und obwohl ihr die glanzlosen Augen von dem Zustand des Mannes berichtet hatten, legte sie prüfend die Finger auf die Halsschlagader.

      Der ist nicht nur tot, der ist mausetot, lautete ihr knappes Resümee. Dann holte sie die bittere Wahrheit ein, und ihr wurde bewusst, dass sich die Sache zur Katastrophe für sie und die anderen Bewohner auswachsen konnte. Nachdem ihr das gesamte Ausmaß klar geworden war, überdachte sie sorgfältig ihre nächsten Schritte. Da sie nichts überstürzen wollte, beschloss sie, Anton um Rat zu fragen.

      Wenig später stand sie mit ihrem Nachbarn vor der Leiche. Kopfschüttelnd ging Anton Jäger in die Knie und musterte den Toten. Er schluckte, um die Trockenheit in seinem Hals zu vertreiben, und sein zerfurchtes Gesicht verhärtete sich. »Das bedeutet Ärger. Viel Ärger.«

      »Kennst du den?« Antons finstere Miene machte Sabine Angst.

      »Leider. Und wenn du mich fragst, um ihn ist es wirklich nicht schade.« Er richtete sich auf und sah Sabine ernst an. »Du marschierst jetzt zur nächsten Telefonzelle und rufst die Polizei. Bis du zurück bist, passe ich auf, dass keine Kinder die Leiche sehen, dann verschwinde ich sofort, und du erwähnst mich mit keinem Wort. Verplapper dich nicht! Das ist sehr wichtig, Mädchen.«

      3

      »Denkst du nicht, dass du dich langsam zum Obst machst?« Oberleutnant der VP Ludwig Unger nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und schüttelte den Kopf. »Ich meine, jeden Tag ins Möbelhaus Intecta latschen, um nach dieser bescheuerten Schrankwand zu fragen. Nimm doch einfach eine von denen, die sie dahaben.«

      Leutnant Uwe Friedrich, der bereits die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, trat zurück in den Raum. »Hast du dir die Holzkästen mal angesehen? Eine hat runde Fenster wie Bullaugen. Da kann ich mir ja gleich einen Dampfer in die Stube stellen. Nein, ich will die Poel Satin. Und um die zu kriegen, müssen mich die Verkäuferinnen schon am Klang meiner Schritte erkennen. Irgendwann haben die mein Gesicht so satt, dass sie die Poel für mich reservieren.« Nach diesen Worten verließ Uwe schnell das Büro. Aus Erfahrung wusste er, dass eine Diskussion mit seinem Vorgesetzten ausarten konnte.

      Er überquerte den Neumarkt und lief an dem riesigen Trümmerhaufen der Frauenkirche vorbei. Während er das Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung rechts liegen ließ, schüttelte er über Ludwig den Kopf. Manchmal konnte der richtig nervig sein. Dabei hatte sein Kollege nicht die geringste Ahnung, wovon er eigentlich sprach. Obwohl Ludwig sieben Jahre älter war als er, wohnte er noch bei seiner Mutter und musste sich um solche Kleinigkeiten wie Möbel, Essen sowie Wäschewaschen nicht kümmern. Dafür war schließlich Mami da. Einzig seine tägliche Dosis Alkohol, die besorgte er sich selbst.

      Getauscht hätte Uwe allerdings nie mit ihm. Er fand es gut, auf eigenen Beinen zu stehen. Vor einem halben Jahr hatte er den Schlüssel für eine Einraumwohnung in Prohlis in die Hand gedrückt bekommen. Seitdem kannte sein Glück keine Grenzen.

      Natürlich war Uwe sich bewusst, dass er aufgrund seines Berufs einen Sonderstatus genoss und eher als ein normaler Werktätiger an eine der begehrten Wohnungen gekommen war. Doch das Wohnungsbauprogramm lief auf Hochtouren, und in paar Jahren würde dieses Problem der Vergangenheit angehören.

      Inzwischen hatte Uwe das Intecta erreicht. Heute lachte ihm das Glück, die heiß begehrte Schrankwand war eingetroffen. Mithilfe einer Verkäuferin stellte er seine Wunschteile zusammen, vereinbarte einen Liefertermin und verließ nach einer knappen Stunde fröhlich strahlend das Geschäft.

      Uwe hatte einen hohen Aufwand betreiben müssen, um seine Anbauwand zu ergattern. Aber die Poel Satin war es wert.

      Dass es noch ein langer Weg war, bis Konsumgüter in ausreichender Menge zur Verfügung standen, wusste Uwe. Er war jedoch überzeugt, dass sich die Engpässe nach und nach in Luft auflösen würden, denn auf dem VIII. Parteitag hatte Genosse Honecker die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik nachdrücklich hervorgehoben.

      Uwe war sich sicher, wenn jeder in diesem Land seinen Beitrag leisten würde, ginge es stetig bergauf. Er jedenfalls war fest entschlossen, sich mit vollem Einsatz an der Gestaltung des Sozialismus zu beteiligen.

      4

      Auf dem Rückweg zum Polizeipräsidium legte sich Leutnant Uwe Friedrich eine sehr schöne Rede für seinen Kollegen zurecht. Von Beharrlichkeit und Voraussicht wollte er ihm erzählen, und ehe Ludwig mit einer zynischen Bemerkung kontern konnte, das Potenzial des sozialistischen Staates gleich mit herausstreichen.

      Doch diese Freude blieb Uwe versagt. Das Büro war verwaist, und statt des Oberleutnants empfing ihn eine kurze Notiz, abgefasst in Ludwigs gestochen scharfer Schrift. Der Inhalt war bedrückend: In der Äußeren Neustadt war eine Leiche gefunden worden, und er sollte sich umgehend am Tatort einfinden.

      Uwe zögerte keine Sekunde und schwang sich auf sein Fahrrad. Er trat wie ein Wilder in die Pedale. Heute verkniff er es sich, bei der Elbüberquerung einen kurzen Halt auf der Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke einzulegen. Das schlechte Gewissen nagte an ihm, darum unterließ er es, sich an der Aussicht über das Elbtal zu erfreuen.

      In den vergangenen Wochen hatten sie in der Morduntersuchungskommission eine ruhige Kugel schieben können. Da keine Tötungsverbrechen begangen wurden, hatte Uwe die Zeit genutzt, um die Berichte alter ungelöster Fälle durchzusehen. Voller Eifer hatte er sich über die Dokumente hergemacht und verzweifelt versucht, übersehene Hinweise aufzuspüren. Sehnlichst hatte er sich gewünscht, wenigstens einen dieser Fälle aufzuklären, doch in dem Maß, wie der Aktenstapel schrumpfte, ließ Uwes Enthusiasmus Stück um Stück nach. Deshalb hatte er sich die Frechheit herausgenommen, innerhalb der Dienstzeit dem Möbelhaus täglich einen Besuch abzustatten.

      Und ausgerechnet heute, als er voller guter Vorsätze zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte, war er nicht an seinem Platz gewesen, als die Meldung eintraf. Uwe hätte sich in den Hintern treten können.

      Völlig außer Atem traf er am Tatort ein. Er drückte die schwere Eingangstür auf und wollte sein Fahrrad eilig im Hauseingang abstellen, da trat ihm ein uniformierter Volkspolizist mit strengem Gesicht und erhobener Hand entgegen.

      »Kein Zutritt!«, schnauzte er Uwe an.

      Es war nicht das erste Mal, dass der junge Leutnant die leidvolle Erfahrung machen musste, aufgrund seines jugendlichen Aussehens nicht ernst genommen zu werden. Zudem kannte ihn der Vopo nicht und befand sich im Recht, aber Höflichkeit gegenüber der Bevölkerung war für Uwe ein Muss. Er schloss in aller Gemütsruhe sein Rad an, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihm dem Wachtmeister vor die Nase. »Herrschst du eigentlich jeden Mitbürger so an, Genosse?« Eindringlich betonte Uwe jedes Wort.

      Der Wachtmeister hob kapitulierend die Hände. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass du einer von uns bist.«

      »Das hat mit meiner Frage nicht das Geringste zu tun. In Zukunft bemühst du dich um einen respektvolleren Ton, wenn du einen Bürger ansprichst. Verstanden?«

      »Wir stehen hier alle unter Hochspannung. Ein Mord passiert schließlich nicht jeden Tag«, kam die kleinlaute Antwort.

      Uwe ließ die Sache auf sich beruhen, nickte dem Vopo zu und lief durch den Durchgang in Richtung Hinterhof. Dass der Wachtmeister ihm ein »aufgeblasenes Arschloch« nachzischte, ließ er an sich abprallen.

      Noch bevor Uwe seinen Kollegen sah, hörte er ihn. Ludwigs trockener Raucherhusten hallte bis ins Treppenhaus.

      An der geöffneten Tür zum Hinterhof blieb Uwe stehen und machte sich ein erstes Bild. Wie erwartet koordinierte Ludwig den Einsatz der Kriminaltechniker und


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