Verlorenes Land. Andreas M. Sturm

Verlorenes Land - Andreas M. Sturm


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Die Häuserwände, Umgrenzungsmauern und das Toilettenhäuschen waren geprägt von Verfall. Der junge Leutnant konnte aber erkennen, dass die Bewohner im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht hatten, Farbe und Gemütlichkeit in ihre Lebensumgebung zu bringen. Die Hecken waren sorgfältig gestutzt, die Wäschestangen frisch gestrichen, und ein langer Tisch stand gleich neben der Tür zum Hinterhaus. Um den Tisch waren drei sechseckige Plastikgefäße gruppiert. Uwe blinzelte ungläubig. Normalerweise sah er die in der Kaufhalle stehen, beladen mit Milchbeuteln. Jetzt spross Heidekraut in den dunkelgrünen Kunststoffkübeln.

      Eine nette Ecke zum Quatschen, dachte er und lächelte wehmütig. In seinem neuen Wohnumfeld gab es so etwas nicht. In dem Hochhaus lebte er anonym. Die wenigen Mitmieter, die er von Sehen kannte, grüßten kaum.

      Ludwig hatte sich neben dem Außenklo positioniert und redete gerade dem Fotografen in seine Arbeit hinein, als Uwe sich zu ihm gesellte.

      Die Lippen des Oberleutnants verzogen sich missbilligend. »Es ist schön, dass du es einrichten konntest.«

      Uwe wollte sich rechtfertigen, ließ es jedoch. Wenn sein Chef in Fahrt war, hatte der kein Ohr für Argumente. Eine Entschuldigung murmelnd erkundigte er sich nach den Details. Seine Strategie war goldrichtig. Von seiner eigenen Bedeutung überzeugt warf sich sein Kollege in die Brust und legte los: »Wir haben hier einen männlichen Toten. Die Identität konnte ich schon klären. Kunststück«, er strahlte zufrieden, »er hat seinen Ausweis dabei. Es handelt sich um einen gewissen Siegfried Rost, geboren 1940, wohnhaft auf dem Weißen Hirsch, in der Nähe der Bautzner Landstraße. Dankenswerterweise befindet sich in seinem Portemonnaie auch sein Betriebsausweis. Rost arbeitete beim VEB Pentacon. Ich habe bereits in der Kaderabteilung angerufen und seinen Betriebsteil erfragt. Dorthin werde ich als Nächstes gehen. Sie haben mir auch gesagt, dass das Opfer verheiratet war.« Er holte ein Notizbuch aus der Jackentasche, riss ein Blatt heraus und reichte es Uwe mit den Worten: »Du darfst seiner Frau die Nachricht überbringen.« Unger wandte sich ab, froh, die undankbare Aufgabe delegiert zu haben.

      Uwe verbiss sich ein Lächeln. Sein pedantischer Chef verfügte über eine ausgezeichnete Kombiniergabe, aber Sensibilität oder Geduld kamen in seinem Vokabular nicht vor. Er wollte sich gerade zu dem Toten hinunterbeugen, da drehte sich Ludwig noch einmal um. »Etwas ist merkwürdig. Der Mann trug keinen Schlüssel bei sich, frag mal die Ehefrau danach.«

      Uwe nickte und begann mit der Betrachtung der Leiche. Er registrierte das Einschussloch in der Herzgegend, den Blutfleck an der Wand des Toilettenhäuschens und den entsetzten Gesichtsausdruck des Mannes.

      Er schlussfolgerte, dass die Tat eindeutig in diesem Hof verübt worden war. Keiner der Anwohner würde in einer kalten Februarnacht seine Runden über die alten Pflastersteine drehen, wenn er nicht unbedingt musste. Ein passender Ort für eine Hinrichtung also.

      Uwe lief zur Eingangstür des Hinterhauses, zu der sein Chef mittlerweile gegangen war und ihn amüsiert beobachtete.

      Der junge Leutnant sparte sich einen Kommentar. »Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte er stattdessen.

      »Eine Krankenschwester, die zeitig aufgestanden ist, weil sie zum Frühdienst musste. Ich habe ihre Aussage bereits aufgenommen.« Ludwig schwieg und ließ seinen unausgesprochenen Tadel wirken. Es machte ihm anscheinend Spaß, erneut in der Wunde zu bohren.

      »Ich würde sie gern sprechen, natürlich nur, wenn dich das nicht stört.« Uwes Tonfall war schärfer als beabsichtigt, aber er hatte es satt, sich Vorhaltungen machen zu lassen. Ludwigs Arbeitsmoral war ebenfalls nicht gerade die eines Aktivisten der ersten Stunde. Sobald er erfuhr, dass es in einer der Kaufhallen der Umgebung Radeberger gab, verschwand er schneller aus dem Büro als ein ertappter Dieb auf der Flucht.

      »Tja, das tut mir jetzt sehr leid für dich. Ich habe sie gehen lassen, um den Krankenhausbetrieb nicht ins Stocken zu bringen. Viel wusste sie ohnehin nicht. Sie wollte auf den Topf, hat sich gewundert, was da neben dem Scheißhaus liegt, und die Bescherung entdeckt. Dann ist sie zur nächsten Telefonzelle gewetzt und hat den Notruf gewählt.«

      Uwe war noch etwas eingefallen. »Sind die Techniker mit der Leiche fertig?«

      Ludwig nickte, und in seinem Blick lag etwas Fragendes.

      Uwe verspürte keine Lust, sich näher zu erklären. Stattdessen lief er zurück zum Opfer. Er ging in die Knie, öffnete den Mantel des Toten und suchte nach dem Etikett des Herstellers. Flink notierte er sich die Daten und wiederholte die Prozedur bei dem Jackett und der Weste.

      Danach kam er federnd in die Höhe und sortierte seine Erkenntnisse. Die Kleidung war offensichtlich maßgeschneidert. Ein Typ, der so teure Sachen trug, passte nicht in diese Gegend. Hier leben alte Leute, die schon immer in den Häusern gewohnt hatten, junge Leute, die woanders keine Wohnung bekommen konnten, Künstler und solche, die es verstanden, in einem System zu leben, ohne es zu akzeptieren.

      Nachdenklich zog Uwe die Unterlippe zwischen die Zähne. Was hatte der Kerl bloß hier gewollt? Zweifellos war er freiwillig in den Hinterhof gekommen. Sein Mörder konnte ihn ja schlecht mit vorgehaltener Waffe quer durch die Neustadt getrieben haben. Uwe war sich sicher, die Antwort auf diese Frage würde ihn auf direktem Weg zur Lösung des Falls führen. Da er nicht die geringste Lust verspürte, Ludwigs spitze Zunge herauszufordern, würde er seine Überlegungen vorläufig für sich behalten.

      Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass sein Chef bereits losgefahren war. Am Ausgang hielt Uwe inne und drehte sich noch einmal um. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getrogen, der Hof verströmte trotz des abblätternden Putzes einen urigen Charme. Er würde alles daransetzen, um herauszufinden, wer den Frieden dieses Ortes gestört und ihn als Richtstätte missbraucht hatte.

      5

      Nach einer hastig gerauchten Zigarette betrat Oberleutnant Ludwig Unger das Objekt 1 des Kombinats VEB Pentacon auf der Schandauer Straße. Aus dem Inneren des Gebäudes schlug ihm der warme Atem der Werkzeugmaschinen entgegen. Im Lauf der vielen Jahre hatte sich der Geruch nach Metallstaub und Maschinenöl in den Fluren festgesetzt.

      Ehe er kostbare Zeit mit Herumsuchen vertrödelte, schnappte sich Ludwig einen Lehrling, der in seinem blauen Arbeitskittel eilig die Treppe hinaufstieg, und erkundigte sich nach dem Büro des Objektleiters.

      Über das Vorzimmer des Chefbüros wachte eine nicht unattraktive Brünette von Anfang vierzig. Ludwigs Jagdinstinkt entflammte auf der Stelle. In den siebenunddreißig Jahren seines Lebens war er bisher keine längerfristige Beziehung eingegangen. Stattdessen lebte er nach der Devise: »Warum soll ich mir eine Kuh kaufen, wenn ich ein Glas Milch trinken will?« Da es ihm bei seinen Eroberungen herzlich egal war, ob sich die Dame in festen Händen befand oder nicht, übersah er großzügig den Ehering der Frau.

      Ludwig zauberte ein gewinnendes Lächeln auf seine Lippen und musterte das Objekt seiner Begierde voller Anerkennung. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie bei Ihrer Arbeit störe. Aber ich muss unverzüglich Ihren Chef sprechen.« Gleich darauf setzte er seinen einstudierten Dackelblick auf. »Jetzt habe ich doch glatt vergessen, mich vorzustellen. Sie haben mich vollkommen aus dem Konzept gebracht.« Er zückte schwungvoll seinen Dienstausweis. »Oberleutnant Unger, Kripo Dresden.«

      »Oh, Besuch von der Kripo hatten wir hier noch nie.« In den weit aufgerissenen Augen der Sekretärin glitzerten Neugier und die Lust auf ein Abenteuer. »Einen kleinen Moment bitte. Ich schaue nach, ob Herr Scharfenberg Zeit hat«, flötete sie, lief mit elegantem Hüftschwung zur Tür des Chefbüros und huschte hinein.

      Ihre wenigen Schritte genügten Ludwig, um zu sehen, dass ihr Körper hielt, was ihr Gesicht bereits versprochen hatte. Frechheit siegt, dachte er und pfiff ihr leise nach.

      Ein kokettes Lächeln, als sie wenige Augenblicke später aus dem Büro trat und ihm die Tür aufhielt, gab ihm recht. Ludwig war hochzufrieden, das schmucke Fischlein zappelte an der Angel. Doch für lüsterne Fantasien fehlte ihm jetzt die Zeit. Er stellte sich vor, und Scharfenberg bat ihn zu einer Sitzecke.

      Voller Freude registrierte Ludwig den Aschenbecher auf dem Tisch. Und als Scharfenberg sich eine Zigarette ansteckte und ihm die Schachtel reichte, kannte sein Glück keine Grenzen. In


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