Kommunale Pflegepolitik. Frank Schulz-Nieswandt
existenzielle Dramatik verständlich zu machen, geht Kapitel 2 den Zugangsweg einer breiteren mythenhermeneutischen Annäherung. Diese »Arbeit am Mythos« (Blumenberg) soll die »Wahrheit des Mythos« (Hübner) generieren. Die existenziellen Themen der klassischen Mythen werden aktualisiert. Diese Arbeit der Mythenrezeption greift die genossenschaftliche Form der Liebe als Ordnungsprinzip des sozialen Miteinanders aus Kapitel 1 auf und aktualisiert dies mit Blick auf die völkerrechtlichen Grundrechtskonventionen der UN. Wenn dergestalt über die Endlichkeit und über den Tod, über die Einsamkeit und über die soziale Ausgrenzung, über die Sinnleere und über die Entfremdung gesprochen wird, so resultiert daraus die Thematisierung der Angewiesenheit des Menschen auf das soziale Miteinander, das in der bildsprachlichen, aber auch realtypischen Idee des »Dorfes« (als Form: die »Morphe«) nachbarschaftlich ausgelegt wird, nämlich als Quartier lokaler Sorgegemeinschaft. Wenn so das Wesen (die »Hyle«) des Menschen ontologisch erfasst ist, so mündet das Kapitel 2 erneut in Schlussfolgerungen Kritischer Theorie: Denn auf das »Wahr-Werden als Wirklich-Werden der Idee im Noch-Nicht-Status der Hoffnung auf Heil« ist mit sozialer Phantasie und politischem Mut aus der Kraftquelle der Empörung als Ausdruck der Liebe zur Welt zu pochen.
Was hat Hölderlin1 mit der Versorgung zu tun? Sehr viel. Allgemein, weil der Mensch der Dichtung bedarf.2 Aber spezifischer: Denn Hölderlin hat nach der Gestaltwahrheit der Landschaften gefragt, in die die Menschen eingebettet sind. Und Hölderlin war hermetisch in seinem Werk als Aufforderung, die Frage der sinnhaften Daseinsführung nicht leicht konsumierbar zu machen, weil Hölderlin in seiner antizipierenden Phantasie (wie er sich Hellas ebenso ohne aufsuchende Reise imaginieren konnte) chiffriert kritisierte, dass die Signatur der Moderne die Nützlichkeit3 als Leitstern des Produktivismus sei.4 Der Umweg über die Verschlossenheit, Unzugänglichkeit, Unbegreiflichkeit ist – jenseits des auf Hölderlin bezogenen psychiatrischen Diagnosediskurses5 – angemessen in Bezug auf das Mysterium des Lebens, keine apollinische Klarheit durch analytisches Denken, das zerlegend, teilend der Kausalität auf der Spur ist, wo es doch um schöpferische Synthese geht.6
Und was hat Goethe7 mit der Idee des sozialen Wandels zu tun? Sehr viel8, denn er handelte von Gestalt9 und Wahrheit, von Metamorphosen10 und Entelechien auf dem Weg dorthin.11 In Bezug auf »Faust« schrieb Georg Lukács, es sei ein »Drama der Menschengattung«12. Und damit handelte es vom Altern und von dem Rückblick auf die Frage nach dem jemeinigen Gestaltschicksal.13
Aber nun muss aufhorchend nachgefragt werden: Wie kann nun eine wissenschaftliche Evaluation von Phantasie, Mut und sogar von liebender Weltoffenheit sprechen? Gehört so eine Analyse nicht vielmehr zur Gattung der Literatur? Muss Wissenschaft methodologisch nicht das ganz Andere der fiktionalen Literatur sein? Oder erzählt Wissenschaft nicht auch Geschichten über Geschichten? Diese als Frage gekleidete These hat nichts mit der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge14 auf einer epistemischen Ebene zu tun. Vielmehr sei gefragt: Was ist der epistemische Status der kritischen Evaluation sozialer Wirklichkeit, was ist ihr Wahrheitsverständnis?15 Woran (im Sinne von Referenz) skaliert sie die Erfahrung?
Die Antwort muss breit hergeleitet werden. Pflegepolitik als Teil der Alter(n)ssozialpolitik bettet sich im gesellschaftspolitischen Bemühen ein, die Wohnformen im Alter und für Menschen mit Behinderungen zu differenzieren und die Netzwerkentwicklung als Sozialkapitalbildung16 im Sinne von Caring Communities zu fördern. Verwiesen sei auf sorgende, ressourcen-fundierte Netzwerke der gegenseitigen Hilfe oder der Hilfe für Dritte. Gemeint sind lokale sorgende Gemeinschaften als Netzwerkbildungen, die soziale Unterstützungen bieten für Dritte (freiwillige Fremdhilfe) oder für Mitglieder auf der genossenschaftsartigen Grundlage der Gegenseitigkeit (Reziprozität). Solche Sorgenetzwerke sind Mischungen (Ko-Produktionen) aus informellen Ressourcen (Angehörige, Freunde, Nachbarschaften und des [altruistischen] Ehrenamts) und formellen Ressourcen der Infrastruktur (Professionen von Einrichtungen und Dienstleistungen, auch des Dritten Sektors) und stellen einen Welfare-Mix dar. Die Unterstützungsleistungen zählen zum Sozialkapital. Die Bildung von Caring Communities ist Teil des Gewährleistungsstaates der kommunalen Daseinsvorsorge. Caring Communities funktionieren nur auf der Grundlage des nachhaltigen Vertrauens. Sozialkapital sei also definiert als der Ertrag (E) als Funktion der Investition (I) in Netzwerke (N) der Person:
Hauptertrag ist die soziale Unterstützung als Potenzial sozialer Netzwerke für Dritte bzw. auf der Basis der Gegenseitigkeit (Mechanismus der Gabe und der Generierung von Reziprozität). Sozialkapital SK ist (als Sozialraum gedacht) als Feldfiguration F eine Funktion f der Nutzen (Ertrag) der Investition I (von Ressourcen R wie u. a. von Zeit und Kompetenzen) in soziale Netzwerke NW, die über grammatische Regeln17 der Reziprozitätsordnung RO funktionieren:
Sozialkapital sei also definiert als ein Kapital, das hier nicht ökonomistisch gemeint ist! Aber es geht, bildlich gesprochen, schon um eine Schatulle, einen Schatz, aus dem man (für schöne und wertvolle Dinge) schöpfen kann. Gemeint ist hier der Nutzen (der Ertrag, die »benefits«) der Investition in den Aufbau von Netzwerken, die sodann als Systeme sozialer Unterstützung, der Einbindung, der Personalisierung zu verstehen sind. Dabei sollte auch AAL-orientiert18 gedacht werden. Es geht demnach um alltagstaugliche Assistenzlösungen für ein selbstbestimmtes und teilhabendes Leben unter Einbezug auch von digitalen Strukturelementen.19
Diese auf die Würde der Person und deren Grundrechte der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe abstellende Idee der Sozialraumorientierung schließt u. a. auch die Öffnung der Heime zum Quartier ein. Dies gilt trotz der offensichtlichen Probleme, diese Idee nachhaltig und effektiv zu entfalten, wie auch das Projekt »Gutes Altern in Rheinland-Pfalz (GALINDA)«20 zeigen kann.21 Es handelt sich eben um Kulturfragen eines längeren, auch von Ambivalenzen geprägten sozialen Lernprozesses.22
Die Bundesländer müssen versuchen23, die Rolle der Kommunen24 (als »Gewährleistungskommune 2.0«25) mit Blick auf die Steuerung des demografischen Wandels zu stärken. Dazu gehört auch die Pflegestrukturplanung. Ideen wie die Pflegestützpunkte und die regionalen Pflegekonferenzen müssen gestärkt werden. Das Gemeindeschwesterplus-Modell ist hier exemplarisch anzuführen.26 Im Rahmen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Entwicklung des PSG III konnte das Land aber nicht einen mehrheitsfähigen Konsens zwischen den Ländern einerseits und andererseits zwischen einigen reformwilligen Ländern und dem Bund finden.
Worum geht es also? Die Probleme einer alternsgerechten Versorgungslandschaft beschäftigen die Fachwelt und die kritische Öffentlichkeit seit Dekaden.27 »Versorgung« ist ein gängiger Begriff, vor allem in der etablierten Versorgungswissenschaft und -forschung. Doch der Sorge- bzw. Care-Begriff28 ist, soziolinguistisch gesehen, zur Alternative zur Ver-Sorgung und zur (in ihrer langen Geschichte immer schon ambivalenten29) Für-Sorge geworden, weil das paternalistische Moment (auch im maternalistischen Handeln) substituiert werden muss. So sollten wir also von Landschaften der Sorge, von Sorgelandschaften, sprechen, von Caring Communities. Die räumliche Dichte von Leistungsangeboten als soziale Infrastruktur im Verbund mit informellen Strukturelementen von Caring Communities als Landschaften der Daseinsvorsorge zu verstehen, ist eine andere bildsprachliche Konstruktion von sozialer Wirklichkeit, wenn man die Bedeutung von Landschaften für das personale Erlebniserfahrungsgeschehen des Menschen versteht. Keiner hat dies so schön darlegen können wie Romano Guardini in seiner Interpretation von Hölderlin.30 Doch was ist gemeint? Es geht um das Wesen des Ausdrucks. Auch Mimik und Gestik und andere Formen symbolischer Repräsentation unseres Ausdrucksverhaltens, somit nicht nur die begriffliche Welt, sondern auch die Welt der Bildsprache, die somit Gegenstand einer Bildhermeneutik ist. Wenn man die (nicht nur verbale) Sprache nicht als instrumental und funktional, sondern fundamentalhermeneutisch versteht als die Welt, in der wir (geworfen) sind, also als praxis, die uns kulturgrammatisch einerseits als Sinnhorizonte vorgängig ist, andererseits von uns (phänomenologisch gesehen31) immer erst entworfen wird, dann ist die Sprache Befähigung zur