Kommunale Pflegepolitik. Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik - Frank Schulz-Nieswandt


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Denn das Feuer erhöht die Freiheitsräume der Einrichtung des Menschen in eine risikoreiche Umwelt als Natur, u. a. der Fressfeinde. Auch hier beginnt alles mit der Schuld (hier ist der Diebstahl des Heros und die Annahme des gestohlenen Gutes durch die Menschen gemeint), die mit dem Gewinn der Freiheit durch technologische Innovation verbunden ist. Nun ist allerdings Prometheus männlichen Geschlechtes, aber die Rolle der Frau103 wird re-mythisierend etwas später noch eingefügt, wenn Pandora – nicht nur bei Goethe eine zentrale Figur in der »Dramatisierung der Urgeschichte der Moderne«104 – die Bühne des Dramas betritt. Zu bedenken ist ja, dass die Polis eine männerbündische Kultur ist105: Eine bürgerliche Selbstverwaltung der freien, waffentragenden Männer. Zeus ist, so geht die Narration weiter, nicht amüsiert über die Tat von Prometheus und bestraft ihn. Diese Leidengschichte vom unendlichen Leiden des gefesselten Prometheus wollen wir nicht interpretativ erzählen. Auch an ihr knüpft sich später eine christliche Erlösungslehre als neues Kapitel der Narration der Geschichte an. Auch die Menschen werden bestraft. Der von oben herab – Zeus hatte ja seine Villa auf dem Olymp – Blitze schleudernde Zeus war ein durchaus zorniger Gott (diese Eigenschaft – in der Theologie von Karl Barth in verstiegener Weise analog stilisiert – mit dem JHWE-Gott des AT teilend) – sorgte dafür, dass die erste Frau – Pandora106 – auf die Welt kam. Sie brachte als Pythos die berühmte »Büchse«, von der die weitere Kulturgeschichte immer wieder handelte, mit. Der Rat, sie nicht zu öffnen, war sehr listig. Denn es war sicher, dass der Mensch in seiner Neugierde doch genau dies tun wird. Und er tat es. Und so kamen die Übel der Welt in die Welt des Menschen, das Elend und das Leiden: Das Leben als Altern ist endlich und mündet über das Sterben im Tod, der schwer zu begreifen ist, bis dahin ist das Leben von Arbeit (Sorge) und Krankheit geprägt.

      Die Pointe des Mythos in seinen vielen Variationen, denn er ist, wie das AT, keine aus einer Feder zu einem Zeitpunkt verfasste oder mit Hammer und Meißel in Stein gehauene Erzählung, ist einfach und zugleich ein Mysterium betreffend: Was ist der Mensch? Er ist kein Gott. Und daher charakterisieren ihn die Negationen all der Eigenschaften, die den Göttern zukommen: Unbedingtheit, Unsterblichkeit, absolute Souveränität, Befreiung von Arbeit.

      Die Analogien finden sich leicht in akkadischen, sumerischen, babylonischen Mythen im Umkreis des AT. Man wird sich von dem Anthropomorphismus des nach-titanischen107 griechischen Götterapparates und seinen Personifikationen108 nicht irritieren lassen. Auch der Gott des AT war nicht nur figürlich, sondern im Kern facettenreich anthropomorph erzählt: in der Rolle des zornigen wie liebenden Vaters, als Richter, Erzieher, Mediziner, Gärtner etc. Nur die Sexualität ist nicht so explizit wie bei den Griechen ein Thema, allerdings versteckt, denn er zeugte wohl die Menschen als seine Kinder, die Göttin Aschera war in seinen Frühzeiten die Frau an seiner Seite. Die »Heilige Hochzeit« erzählt davon, ist aber auf dem Weg zum patriarchalischen Monotheismus verloren gegangen.

      Denken wir einmal in der rückblickenden Anwendung der modernen Entwicklungspsychologie von Piaget und Kohlberg. Psychoanalytisch gesehen ist der griechische Götterapparat leichter zu verstehen, wenn er als Spiegelung der Dramatik des menschlichen Geschehens in einer Epoche der Gattungsgeschichte des Menschen verstanden wird, in der es ontogenetisch noch nicht möglich war, das sich der Mensch seinen Subjektstatus109 als Bewusstwerden seines Selbstbewusstseins voll verständlich machen konnte und somit in einem daimonischen Schicksalszusammenhang110 verstrickt war, dessen dynamische Kräfte in den Figuren der Götter – auch die Moiren111 – begriffen wurde. Das zeigt die ganze Homer-Forschung112. Erst allmählich kristallisierte sich ein (individuelles113) Freiheitsverständnis heraus, das sich an ein entsprechendes Verständnis von Geschichte und Verantwortung (und somit Ethik) knüpfte. Das Weltbild musste das Kreis-Denken im Sinne eines kosmologischen Baldachins zugunsten linearen Denkens des Fortschritts114 überwinden.

      Der klassische Mythos ist somit bereits eine erste Form der philosophischen Anthropologie115: Narrativ wird die Antwort auf die existenziale Frage entfaltet, was der Mensch sei116. Der Mensch ist ab seiner Zeugung ein dem Tode geweihtes Wesen, wobei der Weg dieser Endlichkeit dornig ist. Kein Wunder, wenn Sophokles117 darüber fabulierte, das Beste sei, nie geboren zu werden. Es schloss sich sodann der Second-Best-Solution an: Das Zweitbeste wäre, früh zu sterben.118

      So wie ein altorientalischer Mythos die Geschichte erzählt, dass zwei Göttergruppen miteinander stritten, weil die eine Gruppe mühsam arbeiten muss, während die andere die »leisure class«119 war, und die Lösung darin gefunden wurde, aus Lehm den Menschen zu erschaffen, auf den diese Sorgemühe sodann übergeht, so ist die antike Polis nicht ohne das Problem der Sklaverei120 zu verstehen. Das antike Griechenland teilte ferner das ubiquitäre Problem agrarischer Klassengesellschaften des vorchristlichen Altertums: die Schuldknechtschaft121.

      Der Mythos erzählt also im Sinne einer narrativen philosophischen Anthropologie das Leiden des Menschen als homo patiens. Auch in der Pflege geht es daseinsthematisch ja um Leiden, Krisen, Hilflosigkeiten, Ängste, Hoffnungen, Verluste, Trauer, Einsamkeit.122 Insofern ist es didaktisch nicht schlecht gewählt, jede um theoretische Grundlegung bemühte interdisziplinäre Einführung in die Sozialpolitiklehre in der interpretativen Rezeption des klassischen Mythos zu verankern. Diese »Arbeit am Mythos« als Hermeneutik seiner daseinsanalytischen »Wahrheit« soll uns leiten in dem vorliegenden Essay. Der Mensch ist mit dem Altern als Schicksal seines Daseins konfrontiert. Am Ende steht der Tod. Dieser Lebenszyklus ist von Leid verknüpft. Wie umgehen mit diesem Altern, individuell wie kollektiv?

      Die Angst vor dem Tod als Unbegreiflichkeit der Endlichkeit führt zur Angst vor dem Altern. Aber ohne Altern stirbt man früher. Die einzige – um bekannte Sprüche anzuführen – Alternative zum Alter(n) ist der frühzeitige Tod. Daher sei Altern – wenn sich der »Muskelkater vom Leben«123 bemerkbar macht – nichts für Feiglinge. Außerdem hätte sich das Bild vom Altern doch auch geändert. Ebenso bekanntlich beginnt das Leben erst so richtig mit 66 Jahren. Was erzählt uns humorvoll124 die jüdische Weisheit? Auf die Frage, wann das Leben beginnt, antwortet die liberale evangelische Theologie: Bin unsicher; die katholische Theologie: natürlich und selbstverständlich mit der Befruchtung der Eizelle. Der Rabbiner antwortet aber: Wenn der Hund tot ist und die Tochter aus dem Haus, dann beginnt das Leben!

      Die große Geschichte des Odysseus ist als Mythos im Lichte einer Psychoanalyse der Odyssee für uns heute aktualisierend zu erschließen.125 Erzählt wird im Sinne einer philosophischen Anthropologie, was das Leben sei. Es sei eine Reise, voller Abenteuer, Begegnungen mit dem Neuen und Fremden, aber eben auch voller Risiken. Odysseus verlor alle seine Gefährten. Die Reise ist nicht gradlinig, sondern eine Irrfahrt im Labyrinth der Ägäis. Die Reise ist ein Schicksalszusammenhang, den Winden und Strömungen sowie den Interventionen der Götter ausgesetzt. Es erzählt von der liebenden Zuneigung der Göttin Athena zu ihrem Liebling Odysseus. Hermes126 ist wie immer Botengott, Gott der Reisenden, der Übergänge von Ort zu Ort. Hermes kann als Sinnbild der permanenten Metamorphose als Bewegung des Lebens verstanden werden. Er ist als Allegorie zu lesen und zu verstehen. Doch der Mensch ist im Schicksalszusammenhang nicht ohne Eigenanteil. Die Unbesonnenheit, die Gier der Männer, ihre Abenteuerlust, die in Gewaltbereitschaft mündet, ihr Sexualtrieb etc. tragen Mitschuld an der Story. Auch die vielfach erörterte Listigkeit127 des Odysseus spielt hierbei eine besondere Rolle. Nach heutigen Maßstäben der Charakterlehre erscheint uns Odysseus ja nicht durchgängig als sympathischer Mensch. An diesem Punkt kann verständlich werden, welche große Leistung der vor einiger Zeit im hohen Alter verstorbene Kirk Douglas128 in seiner Filmrolle darbot.

      Die Kernbotschaft der Narration ist: Das Leben ist ein Wagnis, an dem man scheitern kann. Aber sich nicht auf das Wagnis einzulassen bedeutet, sich dem Leben zu verweigern. Das ist relativ möglich, so in der eskapistischen Wahl der anachoretischen Rolle des Eremiten (der »konservativen Revolution«129). Doch das sind die religiösen Sonderwege. Der durchschnittliche Mensch steht vor dem Problem, am vollen Leben teilnehmen zu wollen, aber davor zugleich Angst zu haben, diese Freiheit verantwortungsvoll auf sich zu nehmen. Denn die Reise kann scheitern. Frühe psychoanalytische Studien zur Reise machten bereits deutlich: Es ist eine tiefsitzende130 Ambivalenz im Menschen wirksam.131


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