Kommunale Pflegepolitik. Frank Schulz-Nieswandt

Kommunale Pflegepolitik - Frank Schulz-Nieswandt


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auf etwas viel Ursprünglicheres, etwas Vorgängiges, was früher als »Mit-Geteilt-Sein des göttlichen ›logos‹«68 begriffen worden ist, heute aber säkularisiert und immanent69 zu verstehen ist. Demokratietheoretisch relevant ist die ontologische Einschätzung, Gesellschaft sei kein Nebeneinander, sondern eingebunden in dem Horizont eines gemeinsamen Sinnerlebens, wodurch erst der Schauplatz des Mit-Seins eröffnet wird.70 Es geht also um die Ontologie des »cum«.71 Phänomenologisch, also von der Sicht der Erfahrung des Selbstwerdens des Menschen in seinem Weltverhältnis72 gesehen, ist es die empfangene Mich-Erfahrung, nicht der apriorische Ich-Status, der der Ausgangspunkt ist, um das »Wesen des Menschen«73 angemessen zu verstehen.

      Lesen wir die klassischen Mythen eher psychoanalytisch und holen uns dort Deutungsangebote, um die existenzialen Probleme des heutigen Menschen besser zu verstehen – immer in der Absicht, die Lösungswege in ihrer sozialpolitischen Natur als Teil gestaltender Gesellschaftspolitik zu entfalten. Doch Schritt für Schritt muss dies geschehen, geordnet als ein Nacheinander. Die Wahrheit der Gestaltqualität des Menschen in seiner Daseinsführung als Existenzbewältigung ist eine diesseitige Herausforderung, eine Frage des Nicht-Scheiterns in der Immanenz der Geschichtlichkeit des Menschen, sich aus den Fehlentwicklungen seiner zeitgeschichtlichen Verstrickungen im Kontext der unvollendeten74 Moderne der langen Epoche und ihrer Sattelzeit von 1789 zu befreien und neue Wege einer Humanisierung des Zusammenlebens zu begehen.

      Gestaltqualität als Kategorie des Weges vom Abstrakten (Ontologie) zum Konkreten (Psychologie)

      Die ontologische Frage ist die nach der Entfaltung des Wesens des Menschen in der sozialen Wirklichkeit in der Geschichte. Wenn die Ontologie die Struktur des Seins an sich zu begreifen hat, so muss diese ontologische Strukturanalyse die Geschichtlichkeit (damit die Zeitdimension – aber ontologisch anders als in der Modellierung der Ökonomie75 – aufnehmend) berücksichtigen und das Geschehen grundsätzlich geschichtlich einbetten. Die ontologische Strukturanalyse muss sich daher als dynamische Analyse von Prozessen verstehen. Insofern ist eine historische Ontologie zu denken. Das Wesen des Menschen wird zum Telos des Geschehens. Das Werden der sozialen Wirklichkeit des Telos ist kein Automatismus, der auf einem Determinismus beruht. In der reinen Immanenz des geschichtlichen Seins gibt es nur Transzendenz als transgressive Selbstbewegung der Kultur des Sozialen in der Immanenz der Geschichte. Es gibt also keinen unbewegten Beweger. Die Menschen selbst machen ihre Geschichte76, die sie sodann zu verantworten haben. Die ontologische Analyse stellt damit auf Wandlung als das wechselvolle Zusammenspiel von apollinischer Statik der Ordnung und dionysischer Dynamik der Überschreitung ab.

      Ontologisch geht es, vor diesem Hintergrund gesehen, um ein In-der-Welt-Sein im Modus des Mit-Seins, wodurch die Polis, die zum Wesen des Menschen in seiner Seinsverfassung gehört, von einem Geist beseelt wird, der ebenso als Potenzial zu seinem Wesen gehört: die Liebe77 als Ausdruck einer offenen Haltung zur Welt, sowohl in der Form des Gebens wie in der Form des Nehmens, der Gabe und des Empfangens. Bewegen wir uns somit bereits, von der Ontologie kommend, im Raum der Philosophischen Anthropologie, mit der angedeuteten Idee der Reziprozität bereits in der Soziologie und Sozialpsychologie, so betreten wir nun wie in einem System der konzentrischen Kreise, den Raum der Psychologie. Denn dieses Telos-Geschehen in der Geschichte spiegelt sich in dem Gelingen (oder Scheitern) des inneren geschichteten Aufbaus der menschlichen Person. Ist Personalität des Telos der Weltgeschichte, so auch das Telos der Biographie als ein Werden im Reifungswachstum der Persönlichkeit.78 Geschichte und Ontogenese kommen so in die Faltung. Das Bindeglied ist in der Abfolge der Generationen79 die Zeitgeschichte als Abschnitt einer Epoche. Menschen sind als konkrete Wesen immer »Kinder ihrer Zeit«.

      Vor allem im Lichte einer anthropologischen Psychologie und Psychopathologie80 wird diese Gestalt-Werdung des Menschen als Person zu begreifen sein als Gebundenheit an die Einbindung (Einbettung) in gelingende Begegnungen in sozialen Beziehungen. Der Selbst-Bezug des Ich ist somit gebunden an den Welt-Bezug der Mich-Erfahrung im Dialog. Wobei zu bedenken ist, dass über das Verbale hinaus die Sprache sogar die universale Form der Musik81 annehmen mag, die, weil zum Leben immer auch ein Rhythmus82 (aber nicht die der Serie83) gehört, selbst zur Lebensform84 werden kann. Gespiegelt wird die tief im Menschen verankerte Musik als Form des Verlangens nach Liebe, Zuwendung und Kommunikation85 mit dem Du86, wodurch es zur Erfahrung von Wir und Uns kommen kann.

      Die ontologische Existenzanalyse führt uns also zu einer Hermeneutik des Daseins des Menschen, die die Differenz zwischen dem Potenzial der Liebe einerseits und der sozialen Wirklichkeit in einem erfahrungswissenschaftlichen Sinne andererseits denken lässt. Es ist dies das Thema der Entfremdung: Der Mensch wird faktisch nicht, was er doch werden könnte, weil es das ist, was bereits in ihm angelegt ist. Das ist die Geburtsstunde der Kritischen Theorie, die im Dreigestirn von Geschichts- und Sozialphilosophie, Soziologie und Psychoanalyse ihren Platz hat. Und: Die Phänomenologie, die die Frage behandelt, wie sich der Mensch seinen Weg zur Aneignung der Welt erschließt, ist immer gebunden an die geschichtlich vorgängigen Sinnhorizonte, in der der Mensch immer schon (geworfen) ist, über die er aber eben auch – übersteigend – hinaus schreiten kann.87

      Das Thema der Pflege im höheren und hohen Alter ist von eigenständiger Bedeutung, aber zugleich von exemplarischer Natur im Rahmen der so gestellten Frageperspektiven. An ihr können wir ablesen, wo wir in unserer Kulturentwicklung überhaupt und insgesamt stehen. Wir werden mit einem gewissen Erschrecken erfahren müssen, wie »primitiv« wir – die Ausführungen zum kulturellen Umgang mit dem alten Menschen als »Keimträger« wird diese Sicht der Dinge nochmals in überaus deutlicher Weise vertiefen – aufgestellt sind. Die Eischale der Zivilisation88 ist dünn.

      Die Theorien und insofern auch die Verständnisse des Mythos89 sind verwirrend vielfältig.90 Wir halten uns weitgehend an (unserer Interpretation des Beitrages des Werkes von) Hans Blumenberg91, der, wie auch Giorgio Agamben92 an Arnold Gehlens Theorie der Institutionen93 anknüpfend, den Ausgangspunkt (Ursprung) des Mythos, der uns (als »Arbeit am Mythos«) immer nur in einer nie endenden Kette von re-mythisierenden Rezeptionserzählungen94 vorliegt95, in der Ur-Angst und der daraus folgenden Sorge angesichts des »Absolutismus (der erdrückenden Übermächtigkeit) der (numinosen: abschreckenden wie faszinierenden) Wirklichkeit« sieht. Prometheus96 ist dann der Prototyp des Mythos, denn mit ihm wird die selbstbewusste Souveränität des Menschen gegenüber der Natur zum Ausdruck gebracht, die sich heldenhaft bis hin zur aufgeklärten »Selbstbehauptung der Neuzeit« steigert. Diese wird sodann – so bekanntlich Adorno & Horkheimer – dialektisch umschlagen wiederum in eine neue Mythologie der modernen Welt der Gefängnisse97 der Technik, Bürokratie, Kapitalismus und seinen hyperbolischen Verstiegenheiten zum Faschismus. Wobei der Stalinismus einen Vektorraumsprung vorgenommen hat und von dem Extrem des linken Pols des Feldes der sozialen Bewegungen auf den rechten Pol gewechselt ist und eine paradoxe Form des Links-Faschismus eingenommen hat. Die Poesie des subtilen, ja geradezu luziden Kapitalismus mag verlogen sein: Der Stalinismus war Poesie-feindlich: Das kritisierte Leo Kofler, so dass er (wie Ernst Bloch) zum DDR-Flüchtling wurde.

      Was war unsere Ausgangsfrage? Was ist der Mensch? Wir wollen auf einige Mythen – die Nacherzählungen von Gustav Schwab98 dürften durchaus helfen – eingehen. Der bedeutsamste Mythos99 ist der von Prometheus100, ein Heros, also ein Grenzgänger zwischen den Göttern und den Menschen.

      Prometheus und die Produktivkraftdynamik der Zivilisation

      Er gilt als Kulturstifter, stellt man auf die Bedeutung der technologischen Produktivkräfte für die soziale Evolution der Menschheit ab, also ein Zivilisationsstifter. Die Geschichte ist nämlich: Prometheus ist den Menschen sehr angetan und entwendet von Zeus – also Diebstahl in der Chefetage des griechischen Götterapparates – das Feuer. Das Feuer ist hier das Symbol für die Produktivkraftdynamik, die viel später Karl Marx zu einem zentralen Strukturelement seiner Geschichtstheorie der Stufenlehre der Abfolge von Produktionsweisen gemacht hat. Prometheus wollte den Menschen damit geschichtsmächtig machen, quasi wird das Pendant zum


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