Ein guter Junge. Lisa Henry

Ein guter Junge - Lisa Henry


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Lane immer gemütlich und einladend angefühlt, trotz seiner Größe. Er kam gerne hierher. Das hatte er immer getan.

      Nur war das Haus heute Abend beleuchtet. Geparkte Autos spielten ein kompliziertes Tetris-Spiel in der Einfahrt. Acton feierte eine Party. Gott, er konnte da nicht hineingehen, wenn Acton eine Party feierte. Er konnte es nicht ertragen, dass alle auf ihn zeigten und ihn anstarrten. Oder schlimmer, auf ihn losgingen. Eine Menge Leute hatten viel Geld verloren und hassten Lanes Eltern dafür. Sie hassten auch Lane. Je mehr er stammelte, dass alles ein Irrtum war und seine Eltern das in Ordnung bringen würden, desto mehr hassten sie ihn. Sie sahen ihn an, als würden sie ihm nicht glauben. Als ob er lügen würde.

      Er hasste das. Er log nicht. Er hatte nie gelogen.

      Der Knoten in Lanes Magen hatte sich seit dem Tag, an dem alles zum Teufel ging, nie ganz gelöst. Jetzt zog er sich wieder fester zusammen.

      Nein. Er konnte da nicht reingehen.

      Außer.

      Außer er hatte keinen Cent mehr im Geldbeutel und es satt, in diesem schäbigen Motel zu übernachten. Und Acton war nicht nur der Freund seiner Eltern, er war auch Lanes Freund. Und wenn er eine Party feierte, dann war er wenigstens noch nicht im Bett, oder?

      Lane holte tief Luft. Den Knoten in seinem Magen ignorierend, drückte Lane auf den Summer neben dem Tor und sagte der blechernen dünnen Stimme, die danach fragte, seinen Namen.

      Das Tor öffnete sich.

      ***

      Derek hob seine Kamera.

      Klick-klick-klick.

      Eine Frau in einem weißen, knielangen Kleid und mit Perlen, dick wie Murmeln, unterhielt sich mit einem Mann in einem anthrazitfarbenen Anzug und einer meeresgrünen Krawatte. Derek hatte sie mit zurückgeworfenem Kopf erwischt, wie sie über etwas lachte, das der Mann gesagt hatte, ein Glas Rotwein in der Hand, das bedenklich kippte. Sie hieß Tabitha. Tabitha Irgendwer. Jeder in diesem Haus kannte ihren Nachnamen, abgesehen von Derek. Sogar die Kellner, da war er sich sicher.

      Derek stand in der Hierarchie noch weiter unten als die Kellner. Die Hosensäume der Kellner waren nicht mit Fett verschmiert, wo sie in eine Fahrradkette geraten waren, und die Achseln ihrer Jacken rochen nicht nach Schweiß von einer anderthalb Kilometer langen Fahrradfahrt mit einem Rucksack voll Kameraausrüstung. Derek war hier, um unsichtbar zu sein, um offene Momente mit Belleviews Reichsten einzufangen, während sie so taten, als bemerkten sie ihn nicht.

      Tabitha nahm einen Schluck Wein und leckte sich heimlich über die Zähne.

      War es falsch, dass ein kleiner Teil von ihm sehen wollte, wie sie Wein auf das weiße Kleid verschüttete?

      Er stellte die Blende neu ein.

      Es war nicht Tabithas Schuld, dass sie reich war. Es war nicht die Schuld von Anthrazit-Anzug, dass er hundert Dollar für einen Haarschnitt ausgeben konnte, der ihn wie einen Pilz mit einer Schicht Dreck auf der Kappe aussehen ließ. Es war einfach, sich umzusehen und einen Haufen seelenloser Bastarde zu sehen. Keine Ahnung, wie langweilig sie waren, wie weltfremd. Insgeheim erbärmlich.

      Die meisten von ihnen waren seit dem „Magic-Moredock-Skandal“ noch erbärmlicher – der eingängige Name der Medien für „mehrere Tausend Menschen, die über den Tisch gezogen wurden“. Wall-Street Bonze Laura Moredock hatte wie ein Magier Millionen verschwinden lassen. Und dann war auch noch ihr Mann verschwunden. Der einzig verbliebene Moredock in der Stadt war der Junge, ein College-Kid.

      Derek hatte es satt, Landon Moredock in den Boulevardzeitungen zu sehen, die er normalerweise absolut nicht las – aber was sollte man auch sonst tun, wenn man an der Kasse eines Lebensmittelgeschäfts wartete? Hübscher Junge und ein totales Partytier. Lebte sein Highlife auf Kosten seiner Eltern, wurde vor diesem Club oder jener Bar gesichtet und sah aus, als würde er nicht bemerken oder sich darum kümmern, dass seine Mutter im Gefängnis saß und seine Familie alle verarscht hatte. Erst vor Kurzem hatte sich das Blatt gewendet. Jetzt brachten die Boulevardzeitungen Fotos von Landon, auf denen er entweder am Boden zerstört oder wie in der Falle sitzend aussah, mit weit aufgerissenen Augen. Die Schlagzeilen lauteten SIND LANDON MOREDOCKS PARTYZEITEN VORBEI? und ERMITTLUNGEN WENDEN SICH MOREDOCK-ERBEN ZU.

      Derek kam sich immer ein bisschen schäbig vor, wenn er die Magazine in die Hand nahm und sich die Fotos von Landon anschaute. Aber was machte es schon? Derek wusste es besser, als zu glauben, was er in den Boulevardblättern las, aber wenn er sich Landons Fotos betrachtete, war es leicht zu glauben, dass an den Gerüchten über das Partytier etwas dran war. Wäre Derek in Landons Alter so gut aussehend und privilegiert gewesen, hätte er es sicher auch nicht anders gemacht.

      Die seriöseren Zeitungen stellten Landon nicht als sorglosen Partylöwen dar, sondern als den Erben von Moredock Investments – einen selbstmotivierten Senkrechtstarter, der sich einarbeitet, um eines Tages das Imperium zu übernehmen. Und, so vermutete das FBI, er wusste mehr über den Plan seiner Eltern, als er zugeben wollte. Erst neulich war ein Artikel über mögliche Offshore-Konten in Landons Namen erschienen, und ein Leitartikel in der Gazette hatte das aufgegriffen und den Goldjungen von Moredocks Investments als genauso korrupt wie seine Mutter bezeichnet.

      Diese Version von Landon Moredock – Goldjunge, Erbe, selbstmotiviert – ärgerte Derek noch mehr als das Partymonster. Als Derek zwanzig gewesen war, hatte er als Tellerwäscher in einer Bar gearbeitet. Er hatte keinen hoch dotierten Job in der Firma seiner Familie gehabt, der auf ihn wartete, als er das College verließ. Gott sei Dank war der verdammte Skandal aufgeflogen, sonst wäre Landon Moredock wahrscheinlich schon mit einundzwanzig bei Forbes gelandet, während Derek mit siebenunddreißig so gut wie pleite war.

      Derek war nicht der Einzige im Raum, dem es wegen Magic Moredock schlecht ging. Und was er verloren hatte, war Kleingeld im Vergleich zu den Beträgen, von denen sich diese Leute verabschiedet hatten. Man würde es allerdings nie erfahren.

      Lasergebleichte Zähne blitzten, Gläser klirrten, und Dereks Verschluss klickte.

      Derek hatte sich nie eingeredet, dass er ein Künstler war. Er hatte Fotografen getroffen, die es waren. Die das Innenleben eines Subjekts so perfekt einfangen konnten, dass sich das Betrachten ihrer Fotos fast aufdringlich anfühlte.

      Derek machte gute Fotos. Er verstand etwas von Beleuchtung, Perspektive, Arrangement und Kameras. Und das Fotografieren war viel besser als die Arbeit in einer Kabine eines Großraumbüros. Also war er letztes Jahr aus seiner Kabine geflohen und hatte Fields Photography gegründet. Siebenunddreißig war doch nicht zu alt, um neu anzufangen, oder? Um herauszufinden, was er wirklich tun wollte und es zu tun? Er musste kein künstlerisches Genie sein, er brauchte nur einen Job, der ihm Spaß machte. Oder den er zumindest nicht aktiv hasste.

      Hochzeiten, Abschlussbälle, lokale Veranstaltungen, private Partys … Es bezahlte die Rechnungen – gerade so – und brachte Derek nicht dazu, sich eine Waffe in den Mund zu stecken. Hier war er also, schlich durch Acton Wagners Villa und stellte sich sein Bild von Tabitha Irgendwer in einem gerahmten Zeitungsausschnitt an einer Kirchenmauer vor.

      Jemand hatte einen kleinen Hund in einer Handtasche mitgebracht. Der Hund saß ruhig da und streckte seinen Kopf aus der Handtasche. Er erinnerte Derek daran, dass er morgen bei Christy vorbeikommen musste, um das Shooting für den Wohltätigkeitskalender der Humane Society zu besprechen – und dass er dabei keine schwarze Hose tragen sollte, es sei denn, er wollte sichtbar mit Haaren und Speichel bedeckt im Studio ankommen. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Tatsächlich schien ihm die Gesellschaft von Hunden, Katzen, Schweinen, Frettchen und einem sehr störrischen Ara lieber zu sein als die Gesellschaft, die er gerade fotografierte.

      Er hatte an diesem Abend nur einmal einen Blick auf den Gastgeber erhascht. Acton Wagner sah nicht schlecht aus. Er war ein großer Mann, der durch seinen Anzug wie eingesperrt wirkte, seine Lackschuhe lang und spitz, sein Lächeln schief. Zweimal in den wenigen Minuten, die Derek damit verbracht hatte, ihn zu begutachten, hatte Acton einen Fingernagel an seinen Mund gelegt, sich dann gefangen und die Hand wieder an seiner Seite hängen lassen. Vor dem Skandal hatte er offenbar eine enorme Summe an eine Wohltätigkeitsorganisation gespendet, obwohl


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