Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. Tilman Wetterling

Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit - Tilman Wetterling


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Alkoholika zu trinken. Sie habe dann ihre Arbeit nicht mehr geschafft und sei gekündigt worden. Danach habe sie nur noch zuhause rumgesessen und gesoffen. Eines Tages sei ihr Partner in betrunkenem Zustand eine Treppe heruntergefallen und kurze Zeit danach an den Folgen eines Schädelbasisbruches gestorben.

      Sie habe danach allein versucht, vom Alkohol wegzukommen. Sie habe es aber nicht geschafft. Dann habe sie ihre Wohnung wegen Mietschulden verloren und sei schließlich auf der Straße gelandet. Jetzt wisse sie überhaupt nicht mehr weiter und würde jede Hilfe dankbar annehmen.

      Fallvignette 3 (rechtliche Probleme durch Alkohol, Stigmatisierung)

      Nach einem schweren Verkehrsunfall mit Verletzten ordnete die Polizei bei dem 24-jährigen Fahrer, Herrn A., der den Unfall durch seinen zu schnellen und riskanten Fahrstil verursacht hatte, eine Blutuntersuchung auf Alkohol an. Die Bestimmung ergab 1,9 ‰. In der Gerichtsverhandlung kam der Gerichtsmediziner aufgrund der Angaben von Herrn A. zu einem errechneten Ausgangswert von 2,1 ‰. Herr A. gab an, auf einer Betriebsfeier getrunken zu haben. Er sei nicht betrunken gewesen. Das Gericht verurteilte Herrn A. wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen und verhängte ein dreimonatiges Fahrverbot.

      Acht Jahre später wurde bei Herrn A. bei einer Polizeikontrolle wegen eines auffälligen Fahrverhaltens eine Atemalkoholbestimmung durchgeführt. Sie ergab 1,7 ‰. Herr A. behauptete wiederum, dass er nur bei »besonderen Gelegenheiten« Alkohol trinke, er habe kein Problem mit Alkohol. Herrn A. wurde von der Polizei wegen Fahrens in alkoholisiertem Zustand der Führerschein für ein Jahr entzogen.

      Ein halbes Jahr später wurde die Polizei von einem Busfahrer alarmiert, weil in seinem Bus gerade eine heftige Auseinandersetzung zwischen mehreren Fahrgästen stattfand. Bei Eintreffen der Polizei hatten sich zwei von ihnen gegenseitig ins Gesicht geschlagen. Der eine der Kontrahenten war Herr A. Er war sehr erregt und konnte von den Polizisten kaum gebändigt werden. Er gab an, der neben ihm Sitzende hätte ihn mit der Bemerkung provoziert: Er sei wohl Alkoholiker, wenn er schon gegen 18 Uhr eine deutliche Alkoholfahne habe. Er solle sich auf einen anderen Platz setzen. Andere Fahrgäste hätten sich ebenfalls abfällig geäußert. Daraufhin habe er sich zur Wehr gesetzt, denn er lasse sich so etwas nicht nachsagen. Er sei kein Alkoholiker.

      Da der andere wegen seiner Gesichtsverletzungen Anzeige erstattete, wurde bei beiden Kontrahenten eine Blutprobe angeordnet. Die des anderen ergab eine BAK von 0 ‰, während Herr A. 2,3 ‰ hatte. Die Polizisten hatten in dem Protokoll notiert, dass Herr A. außer einem leicht geröteten Gesicht mit zwei Prellmarken und der Alkoholfahne keine Auffälligkeiten zeigte. Vor Gericht gab Herr A. wiederum an, nur gelegentlich viel zu trinken, dann oft bis zum Rausch. Es kam zu einer Strafe von einem halben Jahr Haft auf Bewährung. Die Richterin hatte in ihrem Urteil ausdrücklich betont, dass bei einer erneuten Straftat unter Alkoholeinfluss eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB erwogen werden müsse. Sie habe allerdings Zweifel, ob diese Maßnahme Erfolg hätte, da Herr A. offensichtlich Rauschtrinker sei und trotz der Konflikte mit dem Gesetz keine Veränderungsbereitschaft zeige.

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      Epidemiologie

      Nach Studien der WHO haben 2016 weltweit nur etwa 43 % der über 15-Jährigen Alkohol konsumiert. Europa gehört zu den Regionen in der Welt, in denen besonders oft und viel Alkohol konsumiert wird (WHO 2018). In Deutschland bleiben nach verschiedenen Erhebungen nur etwa 4–8 % der Bevölkerung lebenslang durchgängig alkoholabstinent. 71,6 % haben im letzten Monat vor einer Befragung Alkohol getrunken (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 53).

      2.1 Alkoholkonsum

      Deutschland zählt mit einem jährlichen durchschnittlichen Konsum von 11,0 l pro Kopf der Bevölkerung über 15 Jahre zu den Ländern mit einem hohen Konsum. Der Alkoholkonsum in Deutschland zeigt seit dem Jahre 1976 eine leicht rückläufige Tendenz (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 55). Dies betrifft vor allem den Bier- und Spirituosenkonsum. Der Verbrauch an alkoholischen Getränken ist aber im internationalen Vergleich weiter sehr hoch (WHO 2018). Der durchschnittliche Alkoholkonsum ist regional in Deutschland unterschiedlich (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 54). In Deutschland beträgt das durchschnittliche Alter beim ersten Konsum von Alkohol 13,8 Jahre (DKFZ 2017, S. 29). Der Alkoholkonsum ist neben Alter und Geschlecht auch abhängig vom sozialen Status. Bei über den 45-Jährigen trinken vor allem Personen mit einem hohen sozialen Status (DKFZ 2017, S. 51).

      Nach den oben genannten Zahlen betrug in Deutschland der durchschnittliche Alkoholkonsum bei den über 15-Jährigen etwa 30 g pro Tag. In einer Befragung (RKI-GEDA) wurde ein riskanter Alkoholkonsum, definiert als > 10 g/Tag bei Frauen bzw. > 20 g/Tag bei Männern, von 14,4 % bzw. 18,3 % der entsprechenden Bevölkerung zwischen 18–64 Jahren angegeben, d. h. hoher Alkoholkonsum ist auf eine kleine Bevölkerungsgruppe beschränkt. Ein Rauschtrinken, definiert als sechs oder mehr alkoholische Getränke mindestens einmal im Monat, wurde bei einer Befragung (RKI-GEDA) von 44,7 % der Männer und 25,9 % der Frauen im Alter von 18–64 Jahren angegeben. Bei den älteren war der Anteil 35,1 % bzw. 21,9 % etwas niedriger. Aber insgesamt hatten fast ein Drittel der Erwachsenen angegeben, einmal im Monat einen Alkoholrausch zu haben. Bei Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren lag der Anteil bei Männern bei 16,7 % und bei Frauen bei 11,4 %.

      Der Anteil der Bevölkerung, die einen risikoreichen Alkoholkonsum betreibt, bleibt (mit Schwankungen) bis ins höhere Lebensalter hoch. Nach dem 64. Lebensjahr kommt es nur zu einer geringen Reduzierung des Bevölkerungsanteils, die einen riskanten Alkoholkonsum betreibt, auf noch etwa 18 % bei den über 65-jährigen Männern und etwa 12 % bei den Frauen in diesem Alter (DKFZ 2017, S. 41).

      Eine Studie aus Großbritannien hat gezeigt, dass bei einer personenbezogenen Betrachtung die Trinkmenge im Laufe des Lebens ein typisches Muster zeigt: Anstieg von der Jugend bis zum 25. Lebensjahr, danach absinkt und bis etwa zum 60. Lebensjahr konstant bleibt, um danach sich weiter zu verringern. Aber die Anzahl der Trinktage steigt in der mittleren Altersgruppe an (Britton et al. 2015). Auch eine Studie aus den USA zeigte eine Verringerung der Trinkmenge in höherem Alter (Brennan et al. 2011). Eine weitere britische Studie ergab, dass das Trinkverhalten im Verlauf von 28 Jahren relativ stabil ist mit Ausnahme derjenigen, die anfangs sehr große Mengen Alkohol konsumiert haben. Diese haben im Verlauf ihre Trinkmenge verringert (Knott et al. 2018). Eine spanische Studie zeigte dagegen häufigere Änderungen im Trinkmuster innerhalb von drei Jahren (Soler-Vila et al. 2014).

      Der Anteil der Alkoholabhängigen in der deutschen Bevölkerung im Alter von 15–64 Jahren wurde in einer anderen Studie (IFT-ESA) mit 4,0 % ermittelt (DKFZ 2017, S. 43). Der Anteil war bei Frauen mit 2,1 % deutlich niedriger als bei Männern mit 5,2 %. Nach epidemiologischen Untersuchungen (anhand von DSM IV-Kriterien (APA 1994)) beträgt die Zahl der Betroffenen in Deutschland in der Altersgruppe zwischen 18 und 64 Jahren (Atzendorf et al. 2019):

      image Alkoholmissbrauch etwa 1,4 Millionen

      image Alkoholabhängigkeit etwa 1,6 Millionen

      2.2 Behandlungsfälle

      Bei 314.211 Behandlungsfällen in deutschen Krankenhäusern wurde 2017 als Diagnose eine psychische oder Verhaltensstörung durch Alkohol (ICD-10: F10.x) angegeben. Dies entspricht fast 75 % aller Krankenhausbehandlungen wegen einer Suchtproblematik. Von der Deutschen Rentenversicherung wurden 2018 in 26.743 Fällen eine stationäre und in 8.113 Fällen eine ambulante Rehabilitationsbehandlung bewilligt. In der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstellen etc.) waren fast 50 % der Klienten mit einer Suchtproblematik alkoholkrank (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 17–20).

      Die Zahl der Todesfälle, die ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingt sind, ist in den letzten 20 Jahren gesunken, bei Männern wesentlich deutlicher als bei Frauen. 2012 starben in Deutschland rund 21.000 Menschen im Alter von 15–64 Jahren (ca. 16.000 Männer und 5.000 Frauen) an Erkrankungen, die entweder ausschließlich auf Alkohol


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