Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit. Tilman Wetterling

Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit - Tilman Wetterling


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alt="image"/> Wirkungen auf Rezeptoren von Neurotransmittern

      image Membranhypothese

      image Wirkungen auf epigenetische Prozesse

      Dabei sind die Akuteffekte von denen bei chronisch erhöhtem Alkoholkonsum zu unterscheiden. Ferner sind noch die Einflüsse von einem gleichzeitigen Nikotinkonsum, insbesondere hinsichtlich der Neurotransmission zu berücksichtigen (Hillmer et al. 2015).

      4.1 Wirkungen auf Neurotransmittersysteme

      4.1.1 Akute Wirkungen

      Die akuten Wirkungen von Alkohol auf das zentrale Nervensystem (ZNS) sind nur schwer zu erforschen, da Alkohol nur flüchtige Anlagerungen an Proteine, Rezeptoren etc. eingeht (Howard et al. 2011). Diese entsprechen nicht chemischen Bindungen bzw. einer typischen Rezeptorbindung. Tierexperimentell konnte aber gezeigt werden, dass schon bei niedrigen BAK (unter 0,5 ‰) bestimmte Rezeptortypen im Gehirn »ansprechen« (Cui und Koob 2017).

      Es gibt nur wenige ältere Liquoruntersuchungen zu den Akuteffekten bei Menschen (Übersicht Wetterling 2000). Durch Methoden wie die MR-Spektroskopie (MRS), Positron Emission Tomografie (PET) und Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) ist es möglich geworden, in-vivo Effekte von Alkohol zu messen (z. B. Hillmer et al. 2015; Volkow et al. 2017). Diese hängen v. a. von den Versuchsbedingungen ab. Die Effekte sind komplex und für verschiedene Hirnregionen einzeln zu betrachten (Abrahao et al. 2017), denn sie betreffen unterschiedliche Ebenen: z. B. Neurotransmitter-Konzentrationen bestimmbar mittels MRS oder Rezeptorendichte mittels PET. Die akuten Effekte von Alkohol lassen sich stark vereinfacht wie folgt zusammenfassen (Hillmer et al. 2015; Roberto und Varodayan 2017):

      image inhibitorische Wirkung auf einige NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-d-Aspartat-Rezeptoren des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat),

      image verstärkt die inhibitorische Wirkung einiger GABA- und Glycin-Rezeptoren

      image inhibitorische Wirkung auf Nikotin-Rezeptoren (Rezeptoren des Neurotransmitters Acetylcholin)

      4.1.2 Veränderungen bei chronischem Alkoholkonsum

      Bei chronischem Alkoholkonsum versucht der Organismus die schädigenden Auswirkungen soweit als möglich zu kompensieren (z. B. durch Verringerung der Rezeptordichte/-empfindlichkeit), d. h. es stellt sich ein neues homöostatisches Gleichgewicht ein. Diese Vorgänge führen zu einer erhöhten »Toleranz« gegenüber Alkohol, d. h. bei chronischem Konsum treten die klinisch sichtbaren Auswirkungen von Alkohol erst bei höheren BAK auf. Auf Neurotransmitter-Ebene sind folgende Veränderungen (stark vereinfacht) bekannt (Hillmer et al. 2015; Roberto und Varodayan 2017):

      image eher verstärkende Wirkung auf einige NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-d-Aspartat-Rezeptoren des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat).

      image Verringerung einiger GABA-Rezeptoren (abhängig vom Hirnareal).

      image verminderte Dopamin-Rezeptorendichte.

      Inwieweit diese Veränderungen auf die Neurotoxizität oder auf neuroadaptive Prozesse zurückzuführen sind, ist noch nicht hinreichend geklärt, denn darüber können nur Studien bei längerer Abstinenz nach chronischem Alkoholkonsum Auskunft geben.

      Eine MRS-Studie zeigte, dass die Glutamat-, Glycin und N-Acetyl-Aspartat-Konzentrationen im dorsalen anterioren Cingulum invers zu der Anzahl der Tage mit hohem Alkoholkonsum waren (Prisciandaro et al. 2019a).

      4.1.3 Veränderungen im Entzug

      Bei chronischem Alkoholkonsum versucht der Organismus die schädigenden Auswirkungen soweit als möglich zu kompensieren (z. B. durch Verringerung der Rezeptordichte). Wenn nach längerem Alkoholkonsum die Alkoholzufuhr plötzlich unterbleibt, wird das neue homöostatische Gleichgewicht abrupt gestört und es kommt zu starken Gegenregulationsprozessen (Rebound). Dieser Vorgang wird als Entzugssyndrom bezeichnet (image Kap. 9.3.3). Folgende Veränderungen der Neurotransmittersysteme im Entzug sind bekannt (Hillmer et al. 2015; Roberto und Varodayan 2017; Koob und Colrain 2020):

      image eher verstärkende Wirkung auf einige NMDA-Rezeptoren (N-Methyl-d-Aspartat-Rezeptoren des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat).

      image vermehrte Noradrenalinausschüttung, die vor allem für die vegetative Symptomatik (Schwitzen, Blutanstieg etc.), aber auch für psychopathologische Symptome wie Angst und Unruhe verantwortlich ist.

      image verminderte Aktivität des dopaminergen Systems im frühen Entzug.

      Veränderungen des Schlafes, insbesondere die Unterdrückung und Fragmentierung des REM (Rapid-eye-movement)-Schlafs sind oft bei chronischem Alkoholkonsum zu beobachten. Im Alkoholentzug kommt es zum REM-rebound und es können im EEG pathologische REM-Schlaf ähnliche Muster auftreten, die im Delir kurzzeitig bis zu 100 % des EEG-Musters ausmachen können. Die Veränderungen des Schlafes im Alkoholentzug werden wahrscheinlich dadurch verursacht, dass Alkohol als positiver allosterischer Modulator der GABAA-Rezeptoren wegfällt. Zudem kommt es zu einer verminderten Dopaminwirkung und einer erhöhten Aktivierung von Stress Neuromodulatoren wie Hypocretin/Orexin, CRF und Cytokinen (Koob und Colrain 2020).

      Eine MRS-Studie zeigte im Entzug (2,5 Tage nach dem letzten Alkoholkonsum) bei Alkoholkranken erniedrigte Konzentrationen von GABA (image-Aminobuttersäure) und Glutamin, aber nicht von Glutamat im präfrontalen Cortex im Vergleich zu »Normaltrinker« (Prisciandaro et al. 2019b). Zudem kommt es zu einem vorübergehenden Wegfall der supprimierenden Wirkung des Alkohols, v. a. auf GABA-Rezeptoren und damit zu einer verringerten Hemmung des Erregungsniveaus im ZNS. Dies kann zu Krampfanfällen führen, denn GABA ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter im ZNS. Nach etwa einer Woche haben sich die GABA-Konzentrationen dann wieder normalisiert (Prisciandaro et al. 2019c).

      Im Alkoholentzug sind noch weitere Neurotransmittersysteme gestört (Junghanns und Wetterling 2017). Bei einem schweren Alkoholentzugssyndrom, insbesondere beim Alkoholentzugsdelir, kann es auch zu Elektrolytstörungen kommen (Wetterling et al. 1994).

      4.2 Membranhypothese

      4.2.1 Akute Wirkungen

      Die sogenannte »Membranhypothese« geht davon aus, dass sich Alkohol aufgrund seiner Wasser- und Fettlöslichkeit in die Lipiddoppelschicht der Zellmembranen einlagern und dadurch deren Struktur verändern kann. Dadurch werden die in dieser Lipiddoppelschicht eingelagerten Ionenkanäle und Rezeptoren der Nervenzellen in ihrer Funktion beeinflusst. Die vorliegenden Daten sprechen aber dafür, dass diese Effekte erst bei sehr hohen Alkoholkonzentrationen (= »narkotische Wirkung«) zu beobachten sind (Most et al. 2014).

      4.2.2 Veränderungen bei chronischem Alkoholkonsum

      Über eine Reihe von Stoffwechselwegen (z. B. Bildung


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