Challenge Ironman. Frank-Martin Belz
„i-Punkt“ überlagert wird, wie in der Medaille vom Ironman Hawaii ersichtlich ist. So setzt sich das „I“ mit dem „M“ zum IronMan zusammen.
Finisher-Medaille Ironman Hawaii 2016
Im Jahr 1982 nahmen erstmals über 500 Athleten teil. Bei diesem Rennen ereignete sich ein Vorfall, der in die Geschichte des Sports einging.9 Die damals unbekannte College-Studentin Julie Moss lag bei dem Rennen überraschend in Führung. Gegen Ende des Marathons war sie jedoch vollkommen erschöpft und dehydriert. Sie fiel mehrmals zu Boden, stand aber immer wieder auf, ging ein paar Schritte und versuchte zu laufen. Keine gute Idee, fiel sie doch wieder hin und blieb schließlich 15 Meter vor dem Ziel liegen. Ihre Beine und Arme waren zu schwach, um noch einmal aufzustehen. Die Zuschauer, die sie wenige Sekunden vorher noch angefeuert hatten, wurden still, verfolgten gebannt die Szene und das Drama, das sich vor ihren Augen abspielte. Während Julie Moss am Boden lag, wurde sie von ihrer Verfolgerin Kathleen McCarthy eingeholt. Aus den Augenwinkeln nahm Julie Moss den Vorgang wahr. Sie wusste, dass damit ihr Traum, den Ironman Hawaii zu gewinnen, zerplatzt war. Tiefe Enttäuschung machte sich breit, die um einiges größer war als der körperliche Schmerz:
„Strangely, it wasn’t the physical pain. Even though I could not stand up, I did not hurt so much physically. However, I was devastated by the emotional pain and disappointment of having a dream ripped away – the dream of winning Ironman. I had nothing left to give, nothing to offer this race, nothing inside. Still, my inner voice said, less urgently now that the imminent threat was gone: Crawl. Crawl to the finish.“ 10
Als sie nichts mehr zu verlieren hatte, hörte Julie Moss auf ihre innere Stimme, die ihr sagte, auf allen Vieren ins Ziel zu krabbeln. Diese ikonischen Bilder gingen um die Welt. Sie wurden Sinnbild für einen Sport, der an die körperlichen Grenzen geht. Und sie kreierten das Ironman-Mantra, wonach bereits der Zieleinlauf ein Sieg ist.
Im Laufe der 1980er Jahre kam es zu einer weiteren Professionalisierung und Kommerzialisierung der Veranstaltung: 1982 stieg Budweiser als Sponsor ein, 1983 gab es aufgrund der großen Nachfrage erstmals Qualifikationsrennen für die „Ironman Triathlon World Championship“, 1986 lobte der Veranstalter erstmals ein Preisgeld von insgesamt 100.000 US$ aus, womit ein wichtiges Signal für die gesamte Sportwelt gesetzt wurde, und 1989 bestritten Dave Scott und Mark Allen Seite an Seite ein Rennen über acht Stunden, das als „Iron War“ in die Geschichte einging.11 Beide gewannen die Weltmeisterschaft auf Hawaii jeweils sechsmal. Sie sind damit lebende Legenden geworden und auch heute noch als Markenbotschafter für den Ironman unterwegs.
Es ist bewundernswert, wie Valerie Silk, die sich selbst als „Nicht-Geschäftsfrau“ bezeichnet, mit viel Geschick, Kreativität, Organisationstalent und Überzeugungskraft im Laufe eines Jahrzehnts aus einer kleinen lokalen Veranstaltung ein Sportevent erschuf, das international bekannt wurde und eine große Anziehungskraft auf Athleten, freiwillige Helfer und kommerzielle Sponsoren ausübte. 1989 verkaufte sie ihre Firma „Hawaii Triathlon Corporation“ inklusive der Markenrechte am Ironman für drei Millionen US$ an James P. Gills, einen Augenarzt und Triathleten aus Florida, der die „World Triathlon Corporation“ und die „Ironman Stiftung“ etablierte. Um das Marktpotential für den Triathlon über die Langdistanz voll auszuschöpfen, verfolgte die neu gegründete Organisation eine Internationalisierungsstrategie. Neben bereits fest etablierten Veranstaltungen wie dem Ironman Europe, der von 1988 bis 2001 in Roth stattfand (ab 2002 in Frankfurt am Main), kam eine Reihe neuer Qualifikationsrennen in aller Welt hinzu. Die meisten sind heute noch Teil des internationalen Ironman Circuit, wie beispielsweise der Ironman Switzerland (seit 1996), der Ironman Japan (seit 1997), der Ironman Austria (seit 1998) und der Ironman Florida (seit 1999). Durch die Internationalisierung änderten sich auch die Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes und der Kampf um die Spitze beim Ironman Hawaii. Dominierten in den ersten 15 Jahren vor allem nordamerikanische Athleten, änderte sich das Mitte der 1990er Jahre: 1994 gewann mit Greg Welch ein Australier, 1996 mit Luc van Lierde ein Belgier und 1997 standen mit Thomas Hellriegel, Jürgen Zäck und Lothar Leder erstmals drei Deutsche auf dem Siegertreppchen.
Im Jahr 2000 wurde der Triathlon olympisch, was der jungen Sportart enormen Auftrieb gab und zweistellige Wachstumsraten bescherte. Der Markt wurde so attraktiv, dass 2008 die Investmentgesellschaft Providence beim Ironman einstieg: Sie übernahm die Firma „World Triathlon Corporation“ und die Rechte an der Marke Ironman von James P. Gills. Der genaue Verkaufspreis ist nicht bekannt, aber es war von 50 bis 80 Millionen US$ die Rede. Das neue Management der „World Triathlon Corporation“ nahm eine Markenerweiterung vor: Neben dem Ironman über die Langdistanz, wurde der Ironman 70.3 über die Mitteldistanz systematisch ausgebaut und ein Ironman 5150 (respektive 5i50) über die Olympische Distanz eingeführt. Die Zahl 70.3 steht dabei für die Summe von 1,2 Meilen Schwimmen, 56 Meilen Radfahren und 13,1 Meilen Laufen, während 5150 für die Summe aus 1,5 Kilometern Schwimmen, 40 Kilometern Radfahren und 10 Kilometern Laufen steht. Mit der neuen Serie werden Sportbegeisterte, die neu in die Welt des Triathlons einsteigen und zunächst eine Olympische Distanz absolvieren möchten, früh mit der Marke Ironman in Kontakt gebracht. Diese Strategie der Markenerweiterung und der weiteren Marktdurchdringung sollte sich als überaus erfolgreich erweisen. Im Jahr 2015 verkaufte Providence die „World Triathlon Corporation“ für sage und schreibe 650 Millionen US$ an den chinesischen Finanzinvestor Dalian Wanda. Wenn man davon ausgeht, dass die amerikanische Investmentgesellschaft Providence den Ironman im Jahr 2008 für etwa 65 Millionen US$ übernommen hat, dann entspricht das einer Verzehnfachung des Unternehmenswertes. 2020 ging der Ironman wieder in amerikanische Hände über: Der neue Investor Advance, der die Markenrechte für 730 Millionen US$ kaufte, will die Kommerzialisierung weiter vorantreiben.
Neben der Ironman-Serie, die aus globaler Sicht eine marktdominierende Stellung einnimmt, gibt es noch viele andere Veranstalter, die Triathlons über die Langdistanz anbieten. Der wichtigste Wettbewerber ist die „Challenge Family“, die weltweit eine Serie von Rennen über Lang- und Halbdistanzen austrägt. Das Zugpferd der Challenge ist die Traditionsveranstaltung in Roth, die zu den größten der Welt zählt. Daneben gibt es noch eine Vielzahl von Einzelrennen, die von nationaler Bedeutung sind und alle einen besonderen Reiz haben. Dazu gehören unter anderem der Austria Triathlon Podersdorf (Österreich), Alaskaman Extreme Triathlon (USA), der KnappenMan (Deutschland), der Ostseeman (Deutschland), der Outlaw Triathlon (Großbritannien), der Norseman Xtreme Triathlon (Norwegen) und der Strongman (Japan).
MENSCHEN
Wie wir in Zeiten von Corona sehen, würde der Mythos vom Ironman in Vergessenheit geraten und die Marke wäre keinen Cent wert, wenn es nicht Millionen von Menschen gäbe, die dem Triathlon Bedeutung beimessen und sich für einen Wettbewerb anmeldeten. Trotz hoher Anmeldegebühren sind die Startplätze für Rennen wie dem Ironman Frankfurt oder der Challenge Roth häufig nach wenigen Stunden bereits ausgebucht. Wie lässt sich das erklären? Warum melden sich jedes Jahr weltweit über hunderttausend Menschen für eine Langdistanz an? Warum nehmen sie die Mühe und Entbehrungen einer jahrelangen Vorbereitung auf sich? Was verbinden diese Sportler mit dem Training und dem Ironman? Das sind die Fragen, mit denen ich mich in dem vorliegenden Buch näher beschäftige. Es geht um den tieferen Sinn und die unterschiedlichen Bedeutungen, die einzelne Athleten dem Ironman beimessen.
Als Professor, der mit qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung vertraut ist und seit Jahren an der Universität unterrichtet, fing ich 2019 damit an, systematisch nach dem Sinn eines Ironman zu suchen. Dabei hat mich das Buch „Counterplay“ von Robert Desjarlais inspiriert, einem passionierten Schachspieler und Professor für Anthropologie am „Sarah Lawrence College“ in New York.12 In seiner brillanten Studie vermischt er persönliche Erfahrungen mit Beobachtungen und Interviews von Teilnehmern, um in die Welt des Schachs einzutauchen und aufzuzeigen, welche Bedeutung das königliche Spiel jeweils für die unterschiedlichen Turnierspieler hat. Dabei verfolgt er einen qualitativen Forschungsansatz, der Ethnographie genannt wird. Éthnos stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet soviel wie „fremdes Volk“, während graphé