Challenge Ironman. Frank-Martin Belz
wurde die Ethnographie zur Erforschung von traditionellen, naturnah lebenden Völkern eingesetzt.13 In jüngerer Vergangenheit wird der Ansatz auch in der Konsumforschung verwendet. So gibt es beispielsweise eine bekannte, ethnographische Studie zu Harley-Davidson-Motorradfahrern, für die sich einer der Autoren längere Zeit einer Gang anschloss, um die Bedeutung der Motorräder für die Mitglieder, ihr Verhalten, ihre Rituale, und Symbole besser zu verstehen.14 Ebenso wie Harley-Davidson-Fahrer lassen sich auch Triathleten über die Langdistanz als eine eigene soziale Gruppe oder globaler Stamm verstehen, der nicht räumlich begrenzt ist. Sie teilen ähnliche Werte und Lebensstile jenseits nationaler Grenzen, Kulturen, sozialer Schichten und beruflicher Tätigkeiten. Bei den internationalen Veranstaltungen rund um die Welt frönen hunderttausende Mitglieder des globalen Stammes ihrer Leidenschaft. Einmal im Jahr kommen ausgewählte Mitglieder des „Ironman-Stammes“ auf Hawaii zusammen, um ihren König und ihre Königin zu bestimmen und ihnen im wahrsten Sinn des Wortes die Krone aufzusetzen.
Ausgehend von meinen eigenen Erfahrungen und Erlebnissen, die ich im Training und in Wettbewerben über 20 Jahre gesammelt habe, beschreibe und analysiere ich die Bedeutungen, die ich dem Ironman als wichtigen Teil meines Lebens beimesse. Um das eigene Erleben nachvollziehbar zu machen und zu reflektieren, betreibe ich Introspektion, das heißt, eine nach innen gerichtete Beobachtung. Diese Form der Selbstbeobachtung kombiniere ich mit Beobachtungen von Teilnehmern und zahlreichen Gesprächen mit den Mitgliedern des Ironman-Stammes. Mit manchen Triathleten bin ich seit Jahren befreundet und habe mit ihnen viele Ausfahrten mit dem Rad unternommen, an die wir uns heute noch lebhaft erinnern. Andere lernte ich in Trainingslagern näher kennen. Neben den zahlreichen Gesprächen führte ich im Jahr 2020 eine Reihe von Interviews mit ausgewählten Triathleten.15 Die Genderforschung legt nahe, dass Frauen und Männer unterschiedlich an Sport teilhaben und ihm andere Bedeutungen beimessen.16 Daher habe ich bewusst weibliche und männliche Athleten für die Interviews ausgewählt. Neben einem „Rookie“, also jemandem, der vor seinem ersten Ironman steht, habe ich mit Athleten gesprochen, die bereits ein Rennen erfolgreich zu Ende gebracht haben, und solchen, die Ausdauersport schon seit Jahren betreiben und mehrere Langdistanzen absolviert haben. Unter den zehn Athleten sind zwei Profis, ein semi-professioneller Athlet und sieben Amateure, die Triathlon als Hobby neben dem Beruf betreiben. Das Wort Amateur stammt übrigens aus dem Lateinischen und kommt von „Amator“, was für Liebender steht. Dabei kann es sich um einen anderen Menschen oder eine Sache handeln, die man liebt und mit Leidenschaft betreibt.
An dieser Stelle werden die zehn interviewten Triathleten kurz vorgestellt. Im nachfolgenden Text wird dann jeweils nur der Vorname genannt, was unter Sportlern üblich ist.
Im Vorfeld der Interviews habe ich alle Athleten gebeten, fünf unterschiedliche Fotos zu suchen, die sie persönlich mit dem Ironman in Verbindung bringen. Diese Vorgehensweise wird als „photo-elicitation interview“ bezeichnet. Sie ist besonders dafür geeignet, Erinnerungen, Erlebnisse und Emotionen hervorzurufen.17
Darüber hinaus habe ich eine Vielzahl von Büchern, Berichten, Blogs und Posts in sozialen Medien gelesen, die von ihnen oder anderen Mitgliedern des Ironman-Stammes veröffentlicht wurden. Bei der Sichtung und Auswertung des Materials lag der Schwerpunkt auf den Sinn- und Bedeutungsdimensionen des Ironman. Um es mit der Metapher eines Eisberges zu beschreiben: Die Spitze des Eisberges ist das, was wir unmittelbar sehen und beschreiben können. Auf den Ironman übertragen handelt es sich dabei um die Bilder eines solchen Rennens, die im Fernsehen ausgestrahlt werden und die den Kampf der Triathleten zeigen. Dazu hören auch der Zieleinlauf und die Erfolge der Triathleten, die sich in objektiv messbaren Zahlen ausdrücken lassen oder das Equipment, in dem Triathleten zum Wettbewerb antreten, allem voran das aerodynamische Triathlon-Rad, das zusammen mit den Laufrädern fast so viel kostet wie ein Kleinwagen.
Im vorliegenden Buch geht es aber nicht um die Spitze des Eisberges, sondern um die Eismassen, die im Verborgenen unter der Wasseroberfläche liegen. Sie sind nicht sichtbar, machen aber doch einen Großteil des Eisberges aus. Ich versuche, die unsichtbare Welt des Ironman zu erkunden und zu verstehen, was die Mitglieder des Ironman-Stammes wirklich antreibt. Dabei geht es um tiefliegende Aspekte wie das eigene Selbstwertgefühl, Anerkennung durch andere, der Drang nach Selbstoptimierung, intensive Körpergefühle und Naturerlebnisse. Ich schaue in das Innere der Triathleten, in ihre Herzen und Gedanken. Ich erzähle Geschichten aus dem Leben von Menschen, die sich dem Langdistanz-Triathlon gestellt haben. Die Geschichten beruhen auf authentischen Erfahrungen und intensiven Erlebnissen. Manche handeln von hohen Erwartungen und tiefen Enttäuschungen, andere von der kompletten Wandlung des eigenen Lebens.
2 SELBSTWERTGEFÜHL
Die meisten Triathleten haben ein positives