Natur Natur sein lassen. Hans Bibelriether
WEG ZUM WILDEN WALD BEGINNT
In manchen katholischen Regionen gab es einst die sogenannte Springprozession: Zwei Schritte vor – einen Schritt zurück… Ähnlich mühsam gestalteten sich die Veränderungen, die nötig waren, ehe aus dem bewirtschafteten Forst schließlich ein sich selbst überlassener Wald im Nationalpark wurde.
1840 wurden im Bayerischen Wald, nachdem sie in Staatsbesitz übergegangen waren, erstmals die damals vorhandenen Waldtypen dokumentiert. Dreiviertel der Flächen wurden als Urwald bezeichnet. Oberhalb 1.100 Meter wuchsen noch ursprüngliche Bergfichtenwälder. Die Hanglagen waren mit Fichten-Tannen-Buchen-Bergmischwäldern bedeckt. In den kalten Talmulden und an den Moorgebieten gab es sogenannte „Aufichtenwälder“, weil es dort für die Rotbuche zu kalt und zu nass war. Der Tannenanteil der Wälder im Nationalparkgebiet betrug damals 24 Prozent. Um 1850 begann nach Erlass von Wirtschaftsregeln für den Bayerischen Wald eine systematische Forstwirtschaft. Sie führte in wenigen Jahrzehnten zu einem massiven Rückgang der Weißtanne, deren Anteil zur Zeit der Nationalparkgründung nur noch vier Prozent betrug. Die strukturreichen ursprünglichen Wälder wurden großflächig in gleichaltrige Fichtenforste umgewandelt.
Als wir uns im Frühjahr 1970, wie bereits erwähnt, ein erstes Bild von den Waldbeständen im Nationalpark machten, stellten wir fest, dass die ursprünglichen Fichten-Tannen-Buchenwälder nur noch auf wenigen hundert Hektar existierten. Nur fünf Prozent dieses Bergmischwaldes waren erhalten geblieben. Anfang 1971 erklärte sich das Ministerium einverstanden, dass auf den Bergmischwald-Flächen keine alten Bäume mehr gefällt werden sollten. Minister Eisenmann entschied auf unseren Vorschlag hin außerdem, dass keine weiteren Forststraßen mehr gebaut werden durften. 115 Kilometer LKW-befahrbare Forststraßen waren damals noch geplant. Dadurch wurde der Einschlag in den noch nicht mit Forststraßen erschlossenen Waldbeständen, vor allem im Bergfichtenwald, eingeschränkt. So erreichten wir, dass die Forstamtsleiter – vor allem die der Staatsforstämter St. Oswald und Mauth-Ost ärgerte es besonders – in den naturnahen, ursprünglichen Altbeständen keine Bäume mehr fällen lassen durften. Oberforstmeister Franz Cronauer vom Staatsforstamt St. Oswald führte im Oktober 1971 aber trotzdem einen großen Kahlschlag im alten Bergfichtenwald am Lusen im „Naturschutzgebiet Simandlruck“ durch. Er ließ das Stammholz mit Pferden und Schleppern durch die angrenzenden Waldbestände talwärts zu den Forststraßen ziehen.
Im „Grafenauer Anzeiger“ wurde über den Kahlschlag am Lusen und die „Empörung“, die er hervorrief, ausführlich berichtet. In einem Leserbrief begründete Franz Cronauer den Kahlhieb dann damit, dass in dem „Vollnaturschutzgebiet“ die „ordnungsgemäße forstwirtschaftliche Nutzung uneingeschränkt zulässig“ sei. Bei einer Ortsbesichtigung bedauerte Ministerialdirektor Hermann Haagen zwar den Einschlag, wies aber die „Angriffe“ der Naturschützer als „maßlos übertrieben“ zurück. Landrat Karl Bayer aus Grafenau meinte: „Dieser Nationalpark gehört dem gesamten Volk und nicht einem Oberforstmeister. Wer gegen diesen Nationalpark handelt, der soll und muss aus dem Nationalpark verschwinden.“
Wir hatten zu der Zeit auch Besuch von Bundeslandwirtschaftsminister Josef Ertl, haben ihn zum Lusen begleitet und ihm diesen Kahlschlag gezeigt. Auch er war entsetzt über dieses Vorgehen in einem Nationalpark. (Übrigens ist es auch heute noch immer in großen Naturschutzgebieten in den Bergwäldern der Bayerischen Alpen erlaubt, Holznutzung durchzuführen, und die Bayerischen Staatsforsten betreiben diese auch alle Jahre wieder mit der fadenscheinigen Begründung, damit würden naturnähere Waldbestände geschaffen!)
In den Jahren 1970 und 1971 wurde von der Oberforstdirektion Regensburg zusammen mit den fünf Staatsforstämtern vor Ort ein „Waldpflegeplan“ – so wurde das Forsteinrichtungswerk benannt – für das Nationalparkgebiet erarbeitet. Er sollte für die nächsten zehn Jahre, vom 1. Januar 1972 bis zum 1. Januar 1982, gelten. Wir vom Nationalparkamt hatten darauf kaum Einfluss. Immerhin wurde aber der Jahreshiebsatz im Nationalparkgebiet, der in den 60er Jahren bei 68.000 Festmeter pro Jahr lag, auf 55.000 Festmeter reduziert. Tatsächlich betrug er dann in den ersten zehn Jahren im Durchschnitt nur 45.000 Festmeter, bei einem Zuwachs von über 80.000 Festmeter pro Jahr. Dass es dazu kam, war vor allem Dr. Hubert Zierl als neuem Leiter des Nationalparkforstamtes St. Oswald zu verdanken. Darüber später noch mehr.
Nach Inkrafttreten des Waldpflegeplans wurde vom Landwirtschaftsministerium öffentlich behauptet, dass die „nicht genutzte Fläche“ im Nationalpark über 4.000 Hektar betragen würde. Tatsächlich waren es nur 1.800 Hektar. Aus 1.320 Hektar war wegen fehlender Rückewege und Forststraßen kein Holzab-transport möglich und nur 480 von 13.000 Hektar wurden um des Naturschutzes willen als Naturwaldbiotope geschützt. Im Dezember 1976 stellte ich den Antrag, auf weiteren 1.800 Hektar naturnaher Altbestände in felsigen Regionen und auf Feuchtgebieten den Holzeinschlag einzustellen. Der Antrag wurde abgelehnt. Noch im November 1977 vertrat der zuständige Ministerialrat Seitschek bei einer Inspektion des Ministeriums die Auffassung, dass „der Landtagsbeschluss von 1969, den Wald naturgemäß zu pflegen, für die ganze Fläche des Nationalparks verstanden werden müsse. Wenn nach dem gegenwärtigen Stand auf rund 2.500 Hektar keinerlei Nutzungen mehr stattfänden, so gehe dies bereits zugunsten des Naturschutzes über die ursprüngliche Konzeption hinaus.“
Internationale Richtlinien dürfen nicht beachtet werden
Im Jahr 1969 veröffentlichte die Weltnaturschutzunion IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) erstmals ihre Empfehlungen für die Zielsetzung von Nationalparken. Darin wurde festgelegt, dass dort „wo ein oder mehrere Ökosysteme durch menschliche Nutzung oder Inanspruchnahme in der Substanz nicht verändert wurden, … und wo die oberste zuständige Behörde des Landes Maßnahmen getroffen hat, um im gesamten Gebiet baldmöglichst die Nutzung oder Inanspruchnahme zu verhindern oder zu beseitigen und die Erhaltung ökologischer, geomorphologischer oder ästhetischer Eigenarten durchzusetzen“, dieses Gebiet als „Nationalpark“ bezeichnet werden kann. Die IUCN wurde am 5. Oktober 1948 als „International Union for the Protection of Nature“ (IUPN) gegründet und ist eine internationale Nichtregierungsorganisation. Ihr Ziel ist die Sensibilisierung der menschlichen Gesellschaften für den Natur- und Artenschutz. Eine nachhaltige und schonende Nutzung der Ressourcen soll sichergestellt werden. 1956 änderte sie ihren Namen in „International Union for Conservation of Nature and Natural Resources“ (IUCN), welcher heute rechtlich immer noch gültig ist. Auf der Nationalpark-Weltkonferenz 1972 wurden die erarbeiteten Richtlinien von den IUCN-Mitgliedern bestätigt.
Als wir diese internationalen Regelungen als Grundlage für unsere Argumentation zur Einschränkung der Holznutzung benutzten, wurde dies von Ministerialdirektor Hermann Haagen abgelehnt: „Rechtsgrundlage für den Nationalpark Bayerischer Wald ist der Landtagsbeschluss. Solange dieser nicht geändert wird, werden internationale Richtlinien für den Nationalpark Bayerischer Wald nicht akzeptiert.“
Das bekamen die Nationalparkbesucher zu sehen. Auf den Parkplätzen wurden schon 1970 riesige Mengen von frisch geschlagenem Holz gelagert. Entlang des neu geschaffenen Lehrpfades in der Waldabteilung Tanzboden bei Neuschönau wurden mächtige alte Tannen gefällt, obwohl dort auf einem Lehrpfad die naturnahen alten Fichten-Tannen-Buchenbestände des Bayerischen Waldes den Besuchern nahe gebracht werden sollten. Am Waldschmidthaus am Gipfel des Rachel wurden alte Fichten eingeschlagen und lagen den Sommer über dort, wo viele Nationalparkbesucher vorbei kamen. Nicht wenige fragten nach, warum in einem Nationalpark solche alten Bäume nicht stehen bleiben dürften.
Sturmwurf 1972
Im Jahr 1972 riss ein Herbststurm im Nationalparkgebiet ungefähr 5.000 Fichten zu Boden. Wir wollten, dass wenigstens ein paar Hundert davon nicht aufgearbeitet werden sollten, sondern als Biomasse im Wald verbleiben durften. Zur Kennzeichnung umwickelten wir diese mit Plastikschleifen. Obwohl die Forstamtsleiter dem zustimmten, wurden dann in drei Revieren im Forstamt St. Oswald trotzdem viele der markierten Windwürfe aufgearbeitet und als Stammholz verkauft. In einer Vormerkung für das Nationalparkamt schrieb Hartmut Strunz damals: „Ich vermute, dass es sich um eine „Demonstration“ der betroffenen Revierbeamten gegen meine Außendiensttätigkeit handelt, um zu zeigen, dass sie selbst in ihrem