Natur Natur sein lassen. Hans Bibelriether
darunter auch Journalisten, in solche beschädigten Waldbestände. Einer der ersten war im April 1970 Georg Kleemann von der „Stuttgarter Zeitung“. Er war mit Horst Stern befreundet, der damals mit seiner Filmserie „Sterns Stunde“ ein Millionenpublikum faszinierte, und erzählte ihm von den Wildschäden. Am 19. Dezember 1970 kam Horst Stern erstmals in den Bayerischen Wald. Georg Sperber zeigte ihm Reste der urwaldartigen Bergmischwälder und die von den Hirschen verursachten Totalschäden nicht nur an den jungen Waldbäumen, sondern auch an anderen Pflanzen. Am Abend verabschiedete Horst Stern sich von uns mit den Worten: „Ihr seid die komischsten Beamten, die mir je begegnet sind.“
Nach seinem Besuch im Bayerischen Wald begann er mit den Dreharbeiten für den Film „Bemerkungen über den Rothirsch“. Der an Heiligabend 1971 ausgestrahlte Beitrag schlug ein wie eine Bombe. Viele der Filmszenen wurden im Nationalpark aufgenommen. Der Film war der Anfang vom Ende des bis dahin offen zur Schau getragenen Herrschaftsanspruchs der Jäger am deutschen Wald. Noch in derselben Nacht erhielt Horst Stern telefonisch Morddrohungen. Massive öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Jagdfunktionären und Forstleuten, denen es um einen gesunden Wald ging, zogen sich monatelang hin. Am 12. April 1972 wurde der Film im Agrarausschuss des Bundestages in Bonn gezeigt und dort diskutiert. Aber noch immer versuchten Jagdverbandsfunktionäre die Herrschaft im Wald zu behalten. Im Bayerischen Landtag verlangten Abgeordnete der CSU – 30 Prozent der Abgeordneten waren damals Jäger – die disziplinarische Abstrafung der am Film beteiligten Nationalparkbeamten, die Bayerns Ansehen mit Füßen getreten hätten. Minister Eisenmann stellte sich schützend vor uns und verbot auf unseren Vorschlag hin jegliche Art von Trophäenjagd im Nationalpark. Mit der Beendigung des Abschusses von Hirschen und Rehböcken als Trophäenträger wurde die „Jagd“ im Nationalpark in eine „Wildstandsregulierung“ umgewandelt, die weltweit in vielen Nationalparken bei einzelnen Großtierarten notwendig ist, weil deren natürliche Regulierung nicht mehr erfolgt.
Ohne Horst Stern wäre das Problem der zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den 70er Jahren nicht gelöst worden.
Wintergatter als Kompromiss
Das Rotwild findet im Sommer in den Bergwäldern genügend Nahrung, im Winter nicht. Deshalb wanderte es früher aus dem Gebirge in die Tallagen, aus dem Bayerischen Wald hinaus in die Niederungen im Donauraum. Im Bayerischen Wald wurde das Rotwild durch die Fütterungen dazu gebracht, im Staatswald zu überwintern. Zäune und Fütterungen konnten aber die tief verschneiten Waldbestände nicht ausreichend schützen. So entwickelte man in Österreich die Idee der Wintergatter, um die Schäden am Wald zu reduzieren. Im Herbst werden die Tiere zu den Fütterungen in die Gatter gelockt und den Winter über mit Grassilage, Rüben und Heu gefüttert. Erst im Mai, wenn die Vegetation im Wald zu treiben beginnt, werden die Gatter geöffnet und die Hirsche wieder in die Freiheit entlassen.
Diese Lösung gefiel uns und mit Minister Eisenmanns Zustimmung wurden die ersten Wintergatter in Deutschland gebaut. Drei Stück von je ca. 30 Hektar Größe wurden im Nationalpark eingerichtet. Dafür verschwanden die 25 offenen Fütterungen. Das erste Wintergatter wurde bereits 1970 gebaut. Revierförster Lothar Hopfner setzte die Waldarbeiter seines Reviers dafür ein. Es wurde zusätzlich eine Beobachtungshütte errichtet und zwei Jahre später durch eine Fanganlage für Forschungszwecke ergänzt. Wintergatter während der kalten Jahreszeit sind ein Kompromiss zugunsten hoher Rotwildbestände und nur ein zweitrangiger Ersatz für die fehlenden Winterlebensräume, die in unserem dicht besiedelten Land praktisch nicht mehr existieren.
Postkarte, adressiert an Bernhard Grzimek, 1970.
Um die Rotwildbestände zahlenmäßig in Grenzen zu halten, reichte im geschlossenen Waldgebiet die herkömmliche Einzeljagd nicht aus. Deshalb war es sinnvoll, schwaches oder krankes Wild in den Wintergattern einzufangen und zu töten, ohne die anderen Tiere zu beunruhigen. Minister Eisenmann stimmte dieser Regelung im Dezember 1971 zu. Der Landesjagdverband versuchte mit allen Mitteln, dieses „unwaidmännische Treiben“ zu verhindern. Jagdverbandspräsident Seubert drohte, die Wintergatter aufzuschneiden. Ein hoher Funktionär des Jagdverbandes drohte mir einmal vor Zeugen, er könne nicht mehr für meine persönliche Sicherheit garantieren. In der Rechtsverordnung über den Nationalpark Bayerischer Wald vom 21. Juli 1992 wurde dann 20 Jahre später festgelegt, dass der Rotwildbestand in den Wintergattern reguliert werden kann. Ein vom Landesjagdverband beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gestellter Normenkontrollantrag, die Nationalparkverordnung für nichtig zu erklären, wurde vom Verwaltungsgerichtshof am 5. März 1996 abgelehnt.
Weil der Rotwildbestand in den Wintergattern reguliert wurde, konnte das Rotwild vom Frühjahr bis zum Herbst im Nationalpark ungestört leben. Die ständige Beunruhigung durch die monatelange Trophäenjagd war damit beendet. Schälschäden waren nicht mehr zu beobachten und große Teile der natürlichen Verjüngung – nicht nur der Weißtanne, sondern auch von Bergahorn und anderen Laubbaumarten – wuchsen wieder unverbissen auf. Auch Blumen wie etwa Weidenröschen und Hasenlattich siedelten sich wieder außerhalb von Zäunen an.
Dazu trug auch ganz entscheidend mit bei, dass die Rehwildfütterung im Nationalpark eingestellt wurde und den Rehen im Winter nichts anderes übrig blieb, als sich ihr Futter außerhalb des Nationalparks zu suchen. Die öffentliche Auseinandersetzung über den Umgang mit Rot- und Rehwild im Nationalpark und das Bekanntwerden der unvorstellbaren Schäden im gesamten Staatswald in Bayern führten unter Minister Eisenmann dazu, dass erstmals in einem Waldgesetz in Deutschland der Satz „Wald vor Wild“ festgeschrieben wurde.
Junger Wald kann wieder wachsen
Nach einigen Jahren war das Rot- und Rehwildproblem gelöst. Der Rotwildbestand wurde bis 1975 im Nationalpark auf 120 Tiere im Winter reduziert. Die Rehe wanderten in der schneereichen Jahreszeit ins Vorfeld. Dass wir unsere Pläne umsetzen konnten, war der Entscheidung von Minister Eisenmann zu verdanken, der 1971 die Zuständigkeit für die Tiere des Parks an das Nationalparkamt übertragen hatte.
1974 kam in der Regierung von Niederbayern in Landshut die Idee auf, mit der Abruzzen-Region in Italien ein Partnerschaftsabkommen zu schließen. Der Nationalpark Bayerischer Wald und der Abruzzen-Nationalpark sollten darin eine wichtige Rolle spielen. Mit einem Festakt wurde 1975 im Bayerischen Wald eine Patenschaft zwischen beiden Nationalparken beschlossen. 1974/75 wurden 19 Stück Rotwild als Patengeschenk in den Abruzzen-Nationalpark transportiert. Sie fühlten sich in der Bergregion, in der es noch Wölfe und Bären gab, offensichtlich sehr wohl. Die Hirsche haben sich rasch vermehrt, so dass heute dort wieder einige hundert Stück Rotwild leben. Gemeinsam mit Horst Stern habe ich 1978 in den Abruzzen an einem sonnigen Nachmittag eine eindrucksvolle Hirschbrunft erlebt. Da dort seit Jahrzehnten nicht mehr gejagt wurde, sind die Großtierarten nicht mehr so scheu und lassen sich auch tagsüber beobachten. Sogar ein Bär zeigte sich eines Abends.
Allerdings kam der Transport von Bayerwaldhirschen nach Italien nicht bei allen gut an. Im Magazin „Stern“ wurde darüber berichtet, dass eine Vertreterin des „Kampfbundes gegen den Missbrauch der Tiere“ den für die Ausbürgerung zuständigen Ulrich Wotschikowsky beschimpfte, weil er es wage, „deutsche Hirsche italienischen Wölfen zum Fraß vorzuwerfen.“
Was ich damals noch nicht ahnte und was wir im Nationalpark Bayerischer Wald im Laufe der Jahre lernten, war die Tatsache, dass das Rot- und Rehwildproblem nur für Wirtschaftsforste gilt. In Naturwäldern, in denen Windwürfe und tote Bäume liegen bleiben, können Rehe und Hirsche nicht überall hinsteigen. So können genügend junge Bäume einzeln oder gruppenweise ohne Verbiss aufwachsen. Es entsteht auf diese Weise ein strukturreicher, ungleichaltriger, wilder Wald von viel größerer Stabilität als die Wirtschaftsforste. Naturwälder im Schutzwaldbereich der Hochgebirge dort, wo noch Wirtschaftsforste vorhanden sind, wieder entstehen zu lassen, wäre wohl eine bessere und billigere Lösung als die heute dort übliche „Schutzwaldpflege“, vorausgesetzt, die viel zu hohen Wildbestände würden zunächst aber einmal angemessen reduziert.