Natur Natur sein lassen. Hans Bibelriether
Alles stand unter Wasser. Es regnete weiter und am 5. Oktober wurden Holzstege zum Ausstellungszelt und zum Festzelt angelagt. Der Kutschweg für die geplanten Pferdekutschfahrten mit Festgästen war nicht mehr passierbar. Am 6. Oktober dann die große Überraschung: Entgegen dem Wetterbericht setzte sich starker Föhn durch, die Sonne schien strahlend. In meinem Tagebuch habe ich notiert: „Mit allen Arbeitern werden letzte Säuberungsarbeiten durchgeführt. Außerdem wird nochmals gewalzt. Auch auf dem Festplatz lassen sich Teile noch walzen – Mittags kommt Ministerialrat Baumgart und organisiert die Festversammlung. Vor allem um die Sitzordnung und die Münzenverteilung kümmert er sich persönlich. Abends wird im Hotel Tannenhof in Spiegelau ein „Freundesverein für den Nationalpark Bayerischer Wald“ gegründet. Gründungsmitglieder sind Professor Lorenz, Professor Grzimek, Professor Plochmann, Regierungspräsident Riederer, Dr. Rüdiger Disko, Karl-Oskar Koenigs und Hubert Weinzierl.“
Über den 7. Oktober notierte ich: „Der Tag beginnt mit strahlendem Herbstwetter. Die Kutschfahrt wird doch stattfinden… Im Zelt sammeln sich ab 10 Uhr zirka 3.000 Besucher. Minister Eisenmann ist etwas aufgeregt, denn Ministerpräsident Goppel hat sich gestern den Arm gebrochen und kann nicht eröffnen! 140 Presseleute drängen sich. Endlich, um 11.30 Uhr, sitzen alle! Von jetzt an klappt alles: die Böllerschüsse, die Leuchtkugel, das Freilassen der Wisente und Luchse, die Kutschfahrt der Minister und der Pferderitt von Minister Eisenmann. Um 16 Uhr ist die Schlacht geschlagen für den Nationalpark und wir sind einen, vielleicht den entscheidenden Schritt weiter.
7. Oktober 1970: Nationalpark-Eröffnungsfeier, Festzug mit Pferdekutschen. In der Kutsche sitzend links: Minister Hans Eisenmann, rechts: Bernhard Grzimek.
Am 8. Oktober ist Schulwandertag, ab 8.30 Uhr überschwemmen vier- bis fünftausend Kinder den Wald und die Gehegezone. Das Fest wird immer zünftiger, nachmittags ist Preisverleihung des Schulmal- und Fotowettbewerbs. Am Abend ist alles noch heil und das Wetter bleibt schön. Die Verärgerung der Arbeiter und die von Hermann Puchinger kann ausgeräumt werden (er wurde mit keinem Dankeswort bedacht), er bekommt noch eine Goldmünze und ist von Minister Eisenmann zum Essen eingeladen! In den nächsten Tagen ist Hochbetrieb im Bierzelt. Das Wetter bleibt schön. Das Interesse an der Informationsausstellung ist groß. Am Schlusstag werden etwa 15.000 Besucher gezählt, rund 2.000 Teilnehmer nehmen an der Sternwanderung zum Nationalpark teil, alle Beteiligten vor Ort sind sehr zufrieden, der Festwirt, die Landräte, die Bürgermeister und die vielen, vielen Einheimischen, denen der Nationalpark nun nahe gekommen ist.“
3 |HIRSCHE UND REHE FRESSEN DEN WALD
DAS WILDPROBLEM DER ANFANGSJAHRE
Unmittelbar nach Dienstantritt wurden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wegen der viel zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den Nationalparkwäldern Tannen und seltenere Laubbaumarten nicht mehr nachwuchsen. Jungwaldflächen wiesen massive Schälschäden auf. Das Thema Hirsche und Rehe im Nationalpark wurde zu einem Schwerpunkt der internen Diskussionen und der öffentlichen Auseinandersetzungen der ersten Jahre. Erst nach Horst Sterns Film „Bemerkungen über den Rothirsch“, der von der ARD an Heiligabend 1971 ausgestrahlt wurde, gelang es, das Schalenwildproblem schrittweise zu lösen.
Schutzgebiet für den König der Wälder
Als in den 50er Jahren Oberforstmeister Götz von Bülow als Leiter das Staatsforstamt St. Oswald übernahm, wurde die Rotwildhege wie bereits erwähnt zum Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Er übertrug den neofeudalistischen Trophäenjagdkult nach ostelbischer Gutsherrenart in seine neue dienstliche Heimat. 1961 schrieb er: „Wir haben unersetzliche Verluste im Osten unseres Vaterlandes hinnehmen müssen, so vor allem die Rotwildvorkommen Ostpreußens, an ihrer Spitze das unvergessliche Rominten mit den stärksten deutschen, ja europäischen Hirschen.“
Der Bayerische Wald wurde von ihm zu einem Rotwildlebensraum der ganz besonderen Art hochstilisiert: „So ergeben die Umweltfaktoren im Ganzen ausgesprochen günstige Voraussetzungen für das Gedeihen unseres Wildes und lassen Vergleiche mit den besten und urtümlichsten europäischen Rotwildgebieten, vor allem mit den Karpaten, zu.“ Weiter schrieb er: „Ich kann versichern, die hier aufgewendeten Mittel bringen eine ideelle und materielle Rendite, die sich nicht nur in höheren Wildbretdichten und stärkeren Trophäen ausdrückt, sondern vor allem durch die Gesunderhaltung des Waldes unschätzbar wird!“ Die Behauptung, die Rotwildhege würde eine „materielle Rendite“ bringen und sich in der „Gesunderhaltung des Waldes“ ausdrücken, war eine glatte Lüge.
Noch vor Bär (1856), Wolf (1846) und Luchs (1846) wurde 1820 der letzte Hirsch im Böhmerwald erlegt. 1807 hatte Fürst Schwarzenberg, Großwaldbesitzer im Böhmerwald, sein Jagd-personal damit beauftragt, alles Rotwild abzuschießen, vor allem wegen der „häufigen Einfälle verwegener Raubschützen aus Bayern“. Fürst Adolf Josef zu Schwarzenberg beschloss dann 1874, das Rotwild wieder einzubürgern. 1878 wurden 29 Stück aus einem Gatter freigelassen. Kurz vor der Jahrhundertwende tauchten die ersten Tiere auf bayerischer Seite auf. Ein nennenswerter Bestand entwickelte sich erst im Dritten Reich. Nach dem Krieg wurden dann die Abschussplanungen nur unzureichend erfüllt und die Rotwildpopulation nahm zahlenmäßig immer weiter zu. Als besonderer Schutzherr und Nutznießer des Rotwildes tat sich der spätere Leiter der Oberforstdirektion Regensburg, Forstpräsident Richard Tretzel, hervor. Jahr für Jahr erlegte er im Bayerischen Wald starke Hirsche, von denen einige selbst den Vergleich mit Görings legendären Rotwildgeweihen nicht zu scheuen brauchten.
Bambi-Kult auf Kosten des Waldes
Als wir im Winter 1969/70 den Wildbestand zu erfassen versuchten, zählten wir mindestens 500 Stück Rotwild auf der Nationalparkfläche. 25 Fütterungen waren eingerichtet worden, damit das Rotwild im Staatswald blieb und nicht außerhalb von Privatjägern im Winter erlegt werden konnte. Schon bald erkannten wir, dass die Hirschzucht zu einer kaum vorstellbaren Schädigung der Waldbestände geführt hatte. Auf fast 700 Hektar war die Rinde von den Stämmen fast aller jungen Fichten abgeschält worden. Laubbäume und Tannen waren großflächig abgefressen. Junge Tannen gab es nur noch in begrenzter Zahl hinter Zäunen und vereinzelt an Waldrändern, die an private Jagdreviere angrenzten. Der König des Waldes war dabei, zusammen mit den Rehen denselben aufzufressen!
Schälschäden durch Rotwild aus den Jahren 1969 bis 1971.
(Foto: Hans Bibelriether)
Mitarbeiter des Nationalparkamtes versuchten in den Anfangsjahren, auf Drückjagden Rot- und Rehwild-bestände zu reduzieren.
(Foto: Hans Bibelriether)
Verantwortungsbewusste Forstleute, wie der damalige Chef der Bayerischen Staatsforstverwaltung Max Woelfle, versuchten, die Schalenwildbestände im Staatswald bayernweit zu reduzieren. Aber gegen den „Bayerischen Landesjagdverband“ hatte er damals keine Chance! 1968 wurde er auf der Titelseite der „Münchner Abendzeitung“ unterlegt mit einem schwarzen Kreuz als „Eichmann der Jagd“ bezeichnet. Die Jäger betrieben einen werbewirksamen Bambi-Kult und es gelang ihnen, einer gutgläubigen Öffentlichkeit „Tierliebe“ und „Wildhege“ als Hauptmotivation für ihr jagdliches Treiben zu verkaufen. 1972 brachte es Horst Stern auf den Punkt: „Es wurde viel zu oft versucht, den Wald gesund zu beten, statt gesund zu schießen.“
„Bemerkungen über den Rothirsch“
Georg Sperber und mir war klar: Wenn die Entwicklung eines naturnahen Waldes im Nationalpark auch nur eine geringe Chance haben sollte, mussten die Hirsch- und Rehbestände drastisch reduziert werden. Wir wollten einen Wildschadenspfad anlegen, auf dem zu sehen war,