Textland - Made in Germany. Группа авторов

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eines Tages trieben sie es zu doll und flogen einfach weg. Es gab alte Blumenmädchen an Straßenkreuzungen, reinliche Marktfrauen mit Porzellanteint und schlechten Zähnen, Imker, die Honig in bauchigen Fünf-Liter-Gläsern zum Verkauf anboten, in deren bernsteinfarbener Tiefe eine einsame Arbeiterbiene als Zierde schwebte. Eine Weltraumfahrerleiche, nach der jedes Kind verrückt war. Pilzverkäufer wanderten mit Pilzketten behangen schüchtern umher, als Schatten ihrer selbst. Pfifferlinge, Röhrlinge, Steinpilze, diese Stimmen aus der Unterwelt, beschwörend, sie hallen noch in meinem Ohr. Oh wie lang ist das her! Fast unwahr, doch es war wahr. Meine Damen, Sie wollen wissen, was es noch in meiner Zeit gab? Bäuerinnen gab es, die, Hühner rupfend, innehielten und sich mit der blutigen Hand bekreuzigten, wenn die Kirchenglocken zu schlagen begannen. Fischverkäufer gab es, die zappelnde Fische in die Höhe hielten, Gewichtheber, die dicke Mädchen durch die Luft wirbelten – vor einer Menge Gaffer, während Zigeunerfrauen einfache Knete in Kaugummiverpackung an gutgläubige Schüler verkauften. Diese kauten das Zeug, ohne mit der Wimper zu zucken, und schauten den Portraitmalern zu, die in schattigen Alleen ihre Staffeleien aufklappten, auf die sie Musterportraits von Schönheiten und pausbackigen Kindern platzierten. Es gab tanzende Bären, geschwätzige Papageien und anhängliche Affen, die für etwas Kleingeld ein Kunststückchen vorführten. Es gab falsche Blinde, die echten Blinden ein Bein stellten, falsche Regisseure, die den Fehler machten, echte Polizistinnen zu sich nach Hause auf einen Tee einzuladen. Es gab Schuhputzer und Messerschleifer, Wahrsagerinnen, die, mit den Augen funkelnd, jungen Frauen verlockende Prophezeiungen im Vorbeilaufen zuraunten. Leierkastenmänner mit einem Holzbein, Pfeife rauchend, Mundmaler ohne Beine und Arme mit einem Pinsel zwischen den Zähnen. Vor ihnen – ein Glas Wasser, Aquarellfarben und eine vorgefertigte Zeichnung mit einer rührenden Familienszene, die den Passanten offenbaren sollte, was für ein Drama sich in der Seele des Torsos abspielte. Stöhnend hackte der Maler an einem Detail herum, wenn jemand an ihm vorbeiging, während ein scheinbar unbeteiligter Zuschauer immer wieder die Blechbüchse mit dem Kleingeld leerte. Es gab Kapellen, die in Parkanlagen die Luft Abend für Abend mit süßlichen und schiefen Klängen erfüllten, so dass Verliebte sich aufgefordert fühlten, durcheinanderzuwirbeln, aber auch reifere Liebende mit schlohweißem Haar schwangen das Tanzbein. Wie welkes Laub raschelten die Chiffonröcke. Weiße Kapitäne tanzten, mit Epauletten klimpernd. Wolken von Schweiß und Parfüm schwebten unter den bunten Lichterketten, und irgendwo in der Nähe zogen verstaubte Hundefänger mit blutunterlaufenen Augen an ihren Zigaretten und schauten den Tanzenden durch die Stämme der Bäume zu. Manchmal glaube ich, sie müssen noch alle da sein, all diese Menschen. Ich brauche nur zurückzukehren, um sie an ihren Plätzen zu finden. Aber wie, wie kann ich dieses Kunststück zustande bringen?

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Das klingt so perspektivlos, oder wie sagte man das früher? Traurig?

      DIE DAMEN: Sad, so sad!

      MARIA: Seitdem ich bei der Familie von Swipsmalheur Zuflucht gefunden habe, sitze ich da drüben hinter der Orangerie in meiner Kunstgrotte und gehe meinen Eremitenpflichten nach. Ich flicke meine Lumpen, wasche sie, sammle Reisig und mache Feuer. Kurzum, ich veredele diesen Garten. Jeder sieht, dass das ewige Heil mein Lebensinhalt ist, dass alle meine irdischen Taten nach dem Zeitlosen ausgerichtet sind. Doch der Schein trügt. In Wirklichkeit schwelge ich nicht in apokalyptischer Furcht, ganz im Gegenteil. Ich muss immer wieder lächeln. Über dies und jenes. Wenn ich merke, dass die gnädige Frau die Terrasse betritt, tue ich so, als würde ich meine Hände am Feuer wärmen. In Wirklichkeit aber brauche ich das nicht. Etwas anderes wärmt mich von innen.

      DIE DAMEN: Der Wermut!

      MARIA: Zum Bespiel der Hundert-Rubel-Schein. Ich sah ihn, ich trat auf ihn und rutschte so in einer Schlange Richtung Kasse, während ein hagerer Mann sich in der Mitte des verspiegelten Saals verzweifelt drehte, Konditorei „Der goldene Schlüssel“. Oder die Bank mit der stacheligen abblätternden Farbe, auf der ich unter einem Nussbaum saß und mit meinem frisch angelegten Gipsbein Nüsse knackte, ein Brandopfer neben mir – seine Beine reichten kaum bis zum Boden. Der Garten eines Kinderhospitals. Die hundert Rubel wärmen mich und die stachlige Bank, aber auch der aus der Dunkelheit eines Gemüseladens herüberwehende Duft von Verwesung und Erde, das Glitzern der Lidschatten der Verkäuferin hinter dem Tresen. Der Bäckerladen mit den an Schnüren herabhängenden Gabeln, diese holzgetäfelte Höhle voller unfreundlicher Frauen. Die Brotlaibe. Diese Kruste mit den drei Einkerbungen, deren Sinn mir für immer verborgen bleiben wird. Die Telefonzellen mit der zerkratzten Wählscheibe. Magische Lichtinseln in der Nacht. Wie oft betrat ich sie und glaubte, ins Weltall zu fliegen. Leise singende Betrunkene in der Gosse, mit dem Gesicht zu den Sternen gewandt. Ging man an ihnen vorbei, erhoben sie die Stimmen. Der Barfuß-Lauf mit den Freunden über Glasscherben im Staubsamt, klebriges Harz aus einer Pflaumenbaumwunde – eine Kostbarkeit.

      DIE DAMEN: Das ist nicht mehr lustig.

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Es wird mir ganz anders.

      MARIA: Und dann kommt dieser Winter, der langersehnte schneereiche, in dem man plötzlich weiß: Etwas ist anders. Dieser Junge mit dem Meeresblick, dieser Junge mit dem Stoppelhaar, seine Halsadern schwellen an, wenn er schreit, Schneeballschlachten, blutende Nasen, der erste Kuss, salzig und rostig im Nachklang. Das wärmt. Das hält mich zusammen, das macht mich unsterblich. Glaube ich manchmal.

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: (betritt die Bühne, diesmal mit verweinten Tuschaugen) Sehr zermürbend so ein Vortrag.

      DIE DAMEN: (beleben sich) Wir sind fix und foxy und bereit für einen Tee.

      FREIFRAU VON SWIPSMALHEUR: Im Namen des Adelsclubs danke ich dir für diese historische Exkursion, Maria. Erst wenn man dir so zuhört, wird einem klar, wie viel uns von deiner Zeit trennt.

      MARIA: Gar nicht so viel, wie Sie glauben, gnädige Frau. (tritt an sie heran und betrachtet amüsiert das verweinte Gesicht) Ich sehe nichts, was uns trennen würde.

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       Kurzgeschichte

Doron Rabinovici image

      Foto: Lukas Beck

       DORON RABINOVICI (*1961 in Tel Aviv) lebt seit 1964 in Wien. Seine Prosa umfasst Kurzgeschichten, Romane und Essays. Seine Romane Suche nach M. (1997), Ohnehin (2003), Andernorts (2010) und Die Außerirdischen (2017) erschienen im Suhrkamp Verlag.

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