Fettnäpfchenführer Brasilien. Nina Büttner
»Ja, na gut, wenn du meinst, das ist okay so für eure Buchhaltung ...« Marcelo atmet erleichtert aus.
»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Solche Dinge regeln wir doch einfacher unter uns, was brauchen wir da all die Dokumente. Brasilien ist berühmt für seine Bürokratie, wusstest du das? Ja, ihr Deutschen habt die vielleicht erfunden, aber unsere Beamten haben sie perfektioniert.«
Beide lachen, Marcelo begleitet Linda hinaus und schärft Mariana in gedämpftem Tonfall ein, Linda am Ende des Monats immer einen Briefumschlag zu geben. Zu Linda gewandt fügt er hinzu: »Das bleibt unter uns, nicht wahr?«
Linda nickt und fühlt sich sehr abenteuerlustig, ja geradezu verwegen.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Marcelo hat die Luft angehalten, als Linda plötzlich so lange überlegte. Er weiß ja, dass Deutsche gerne Gesetze befolgen, aber so schwerfällig hatte er sich Linda nun doch wieder nicht vorgestellt. Schon den Smalltalk hat sie nicht beherrscht. Da fragt er aus Höflichkeit, wie der Unterricht so läuft, und sie will ihn gleich mit Problemen behelligen. Wenn er sie fragte, wie es ihr geht, würde sie womöglich anfangen, von den Verdauungsschwierigkeiten, die ihr das brasilianische Essen bereitet, zu berichten! Zu ehrlich für diese Welt, die Deutschen. Mit einer Brasilianerin hätte er gleich Witze über den Staat, die Regierung, über Beamte und dieses ganze miserable Land machen können, bei Linda dagegen musste Marcelo sein ganzes gestisches, mimisches und sprachliches Geschick auffahren, um sie zu überzeugen. Das Mädchen kennt einfach den jeitinho brasileiro nicht!
JEITINHO BRASILEIRO
Er ist der Mythos des Zusammenlebens in Brasilien, das ungeschriebene Gesetz, das stärker ist als alle geschriebenen. Es drückt eine äußerst distanzierte Haltung zur Obrigkeit aus: Die da oben sind eher da, um uns zu schröpfen, als um uns zu helfen. Eine Haltung, die sich vielleicht aus den Millionen von Sklavenleben entwickelt hat – denn auch wenn sie Tatkraft und Optimismus suggeriert, nach dem Motto »wir finden schon einen Weg«, ist sie doch die Einstellung geübter Verlierer und Lebenskünstler. Regierung und Verwaltung waren jahrhundertelang nicht den Sklaven und allgemein nicht der armen Bevölkerung verpflichtet, sondern Instrumente der herrschenden Klasse. Daraus hat sich das Misstrauen gegenüber der Obrigkeit entwickelt; man regelt Dinge lieber unter sich, als womöglich korrupten staatlichen Stellen Einfluss zu überlassen.
Wenn sich die Schwierigkeiten des Alltags vor einem auftürmen, wenn man vom Staat schikaniert wird oder kaum genug zum Überleben hat, dann muss man eben den jeitinho haben, der wörtlich übersetzt »Art- und Weischen« heißt. Man findet also eine Art und Weise, mit Dingen umzugehen und ans Ziel zu gelangen, die vom offiziellen Weg abweicht. Brasilianerinnen empfinden das nicht als illegal, nur weil es nicht legal ist. Nein, sie sind sogar stolz, wenn sie einen besonders kühnen oder selten begangenen Weg finden. Im engeren Sinne spricht man von jeitinho, wenn zwei oder mehr Personen sich zu Ungunsten des Staates untereinander einigen – da ist die Korruption nicht weit. Doch jeitinho ist so geläufig, dass man auch einfach in Situationen der Improvisation davon spricht: Heute Abend ist eine Party und wir haben weder genug Stühle noch eine Kühltruhe noch einen Catering-Service organisiert? A gente vai dar um jeito – wir regeln das schon.
Da sich Brasilianer der Fähigkeit rühmen, auch ohne Vorbereitung immer noch etwas zu zaubern, und dabei von Planung und Organisation nichts wissen wollen, ist der jeitinho vielen Menschen – auch mancher Brasilianerin – ein Graus. Ihnen gilt er als fortschrittshemmend. Wer nicht gegen die bestehenden Verhältnisse protestiert, kann nichts verändern, und wer nicht plant, kommt im Leben nicht weiter, so die Argumentation dieser eher europäisch und nordamerikanisch geschulten brasilianischen Denker. Diese neue Einstellung zum jeitinho spiegelt die Veränderungen wider, die in Brasilien gerade passieren: Seit etwa zwanzig Jahren können sich überhaupt erst Einsatz und Planung lohnen, die Inflation frisst nicht sofort alles auf, was man sich erarbeitet hat. Da wird es spannend, ob die gaunerhafte, verschwörerische Haltung aller Autorität gegenüber noch lange als nationale Tugend betrachtet werden wird.
Was können Sie besser machen?
Gegen den jeitinho brasileiro kommt keine dahergelaufene Ausländerin an – warum auch, er hat schon seine bequemen Seiten. Da können Sie ruhig entspannt reagieren; Sie als Außenstehender werden das System sowieso nicht ändern können. Und das Schöne am jeitinho ist schließlich, dass beide Seiten davon profitieren. Wenn Sie einmal mit brasilianischer Bürokratie in Kontakt gekommen sind, werden Sie wie Marcelo darauf bedacht sein, sie in nächster Zeit zu umgehen.
Wichtiger noch als das Annehmen des Angebots an sich, ist, wie Sie es annehmen. Berufliche Kontakte in Brasilien wirken auf uns, als wären sie sehr freundschaftlich – das müssen sie nicht unbedingt sein, aber man tut zumindest so. Smalltalk ist also unabdingbar, kein netter Zusatz, sondern Organisationsbasis und Versicherung des Zusammenhalts. Machen Sie ihre Kollegen nicht nervös durch auffälliges Schweigen. Plappern Sie lieber ein bisschen zu viel als zu wenig, sei es im Auto auf dem Beifahrersitz oder im Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten, der Rezeptionistin oder Ihren Kollegen. Dabei ist nur Positives als Gesprächsthema erwünscht, es sei denn, sie regen sich über sehr ferne Dinge oder Obrigkeiten auf wie die Politiker in Brasília. Antworten Sie daher auf Fragen nach Ihrem Befinden oder ihren Erlebnissen wenn nicht mit Begeisterung, so doch mit einer positiven Grundhaltung und verlieren Sie sich nicht in allzu langen Negativ-Ausführungen.
8
LINDA SPRINGTÜBER WELLEN
WIE BRASILIEN ZU SILVESTERPLÖTZLICH ZU EINEM LAND DERREGELN WIRD
Linda hat jetzt schon fast drei Wochen in Brasilien hinter sich und genießt ihr bisher recht entspanntes Leben. Das Weihnachtsfest war überraschend alltäglich und unspektakulär. Und durch die sommerlichen Temperaturen kam sie so gar nicht in Weihnachtsstimmung. Sogar das befürchtete Heimweh blieb aus. Auf Weihnachten folgte eine eher zähe Zeit, aber jetzt endlich rückt Silvester näher. Sie hatte schon Befürchtungen, dass sie den Jahreswechsel zu Hause auf dem Sofa verbringen müsste, wie schon Heiligabend. Aber es kommt anders.
»Willst du nicht reveillon (Silvester) mit uns zusammen in Búzios verbringen? Wir haben da ein Ferienhaus, in das wir jedes Jahr fahren«, fragt Patrícia sie.
Nach einer kurzen Internetrecherche über Búzios willigt Linda ein. Brigitte Bardot hat sich in den Sechzigern im einstigen Fischerort Armação de Búzios im Osten Rios verliebt, hat Linda gelesen. Die Presse der halben Welt ist ihr dahin gefolgt, Búzios ist berühmt geworden und seitdem von Touristen überschwemmt.
Trotz der Menschenmenge, von der sie tatsächlich überall umgeben sind, findet Linda den Ort schön, er ist nicht so zugebaut wie Ipanema oder Copacabana. Zwei Tage hat sie in der Hängematte auf der Veranda des Ferienhauses gelegen, Schmuck eingekauft und sich gebräunt. Abends ist sie mit Patrícia, Marcelo, ihren Verwandten und Freunden Essen gegangen und hat sich durch alle Sorten Caipirinha probiert, die sie finden konnte: Maracuja, Mango, Guave, Erdbeere. In einer war anstatt des Zuckerrohrschnapses cachaça Wein. Wein mit Zucker und Limetten! Das dürfte sie ihren weinliebenden Eltern zu Hause gar nicht erzählen, das ist ja fast ein Verbrechen. Aber so schlimm hat es gar nicht geschmeckt, musste sie erstaunt feststellen. Die Restaurants in Búzios sind elegant, es wird seichter Bossa Nova gespielt, manchmal sogar live.
An dieses Leben könnte ich mich gewöhnen, denkt Linda. Als Bohemien in den Fischerdörfern in der Nähe Rios herumzuhängen, das hat doch was. Sie hat sich ein Büchlein über Bossa Nova gekauft und stellt sich in einem romantischen Anflug vor, wie die jungen Leute in den Sechzigern an diesen noch unberührten Stränden Gitarre spielten und dazu sangen.
VON BOSSA NOVA ZU MPB UND TROPICÁLIA