Fettnäpfchenführer Japan. Kerstin und Andreas Fels
aufgegriffen und der breiten Öffentlichkeit präsentiert. Da kabuki-Schauspieler seinerzeit so populär waren wie heutzutage Justin Bieber bei Teenies, ahmten viele Frauen die abgerundete und in Terrassen erhöhte Künstlermähne nach. Die Haartracht wurde zum Massenphänomen und wird heutzutage auch als nihon-gami (wörtlich: ›Japanhaar‹) bezeichnet. Was das mit Herrn Hoffmann zu tun hat? Nichts. Aber wenn schon die Mitarbeiterzeitschrift so episch breit darüber berichtet, wollten wir dem nicht nachstehen.
Als es dann geschieht, hat das Ereignis für Herrn Hoffmann und seinen japanischen Chemikerkollegen die Tragweite eines zweiten Titanic-Unglücks. Doch eins nach dem anderen. Lassen wir als unsinkbar geltende Luxusliner auf Eisschollen prallen und schauen uns genau an, welchen Fehltritt Herr Hoffmann sich nun wieder geleistet hat.
Drei Minuten und 23 Sekunden vor der Katastrophe. Der Japanreisende erreicht mit Frau Watanabe die Glas- und Betonzentrale von Nakagawa. Ihren Hinweis, dass Herr Yamaguchi, den es zu treffen gilt, bisher sehr wenig Kontakt mit Westlern gehabt habe und ihr dies leid täte, erwidert der Weitgereiste mit einem Abwinken und Lachen: »Das ist nicht so schlimm.«
45 Sekunden vor dem Aufprall. Als Herr Hoffmann im pompösen Foyer steht und Nakagawas Forschungsleiter Yamaguchi sieht, ist der Hinweis bereits vergessen. Mit festem Griff und ebensolchem Blick begrüßt er den Chemiker etwa gleichen Alters. Ein kurzes, joviales Schulterklopfen bei der Bemerkung, dass der augenscheinlich Schüchterne und er mehr oder weniger denselben Job in unterschiedlichen Ländern hätten, rundet Herr Hoffmanns herzliches Begrüßungsritual ab.
Herr Yamaguchi erwidert die Begrüßung mit angedeuteter Verbeugung und sichtlichem Unbehagen. Mit dem Blick schnell zwischen Herrn Hoffmanns Hals und der Tür wechselnd, schaut der japanische Forscher plötzlich als Übersprunghandlung auf seine Armbanduhr und grinst unbeholfen wie ein Teenager bei seinem ersten, bemühten Date.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Während Herr Hoffmann wegen des Treffens mit seinem Kollegen zunächst nur seliges Wohlbehagen verspürt, kann er bereits nach wenigen Sekunden am Gesicht des anderen ablesen, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Der Weitgereiste hat schlicht Frau Watanabes gut gemeinten Hinweis ignoriert, dass Herr Yamaguchi bislang wenig Kontakt zu Westlern und ihren Ritualen pflegte. Und dazu gehört auch der Händedruck, dieses intime Aneinanderdrücken der äußerst berührungsempfindlichen Handinnenflächen. Japanern sind von Hause aus intensivem Körperkontakt mit Fremden eher wenig zugetan. So wird sich zur Begrüßung verbeugt und nur unter Achtung der fremden Kultur mal die Hand gereicht, gerade bei Firmen, die Geschäfte mit Westlern machen.
Das aufmunternd gemeinte Schulterklopfen ist hier ebenso kontraproduktiv beim Versuch, eine freundschaftliche Gesprächsbasis aufzubauen, wie der direkte Blick in die Augen: Was in der einen Kultur als aufgeschlossen und ehrlich gewertet wird, fühlt sich in der anderen aufdringlich, unverschämt und einschüchternd an. Japaner blicken zur Vermeidung solch peinlicher Momente eher auf Kinn oder Hals des Gegenübers – und nicht nur, wenn dieser wie bei der Begegnung mit Herrn Hoffmann einen halben Kopf größer ist.
Was können Sie besser machen?
Wem begrüßungskulturelle Aussetzer unangenehm sind, wartet erst einmal, was der andere mit seinen Händen anstellt. Bleiben diese seitlich an die Schenkel gepresst (Männer) oder vor den Oberschenkeln aufeinander gelegt (Frauen), starten Sie lieber das Verbeugungsmanöver. Ist Ihr Gegenüber bereit, sich an Ihre Begrüßungsriten anzupassen, werden Sie unter Umständen bemerken, dass Ihr Händedruck mit beinahe schon unangenehm schlaffer Sanftheit erwidert wird.
Auch wenn es verführerisch sein mag zu demonstrieren, wie ›ein richtiger Händedruck‹ funktioniert, widerstehen Sie lieber dem Drang, mit unerbittlicher Härte die gerade im handwerklichen Mittelstand geschätzte ›teutonische Prankenzwinge‹ vorzuführen. Und wer weiß: Vielleicht hat der Handreicher auch ein japanisches Gegenstück zu diesem Werk gelesen und bringt schon von sich aus beim Händedruck Ihre Knöchel zum Knirschen.
9
HERR HOFFMANN EKELT SICH
WENN MAN BEIM ESSEN VON SCHULDGEFÜHLEN GEPLAGT WIRD
Er hätte es wissen müssen! Frau Watanabe hatte schon so verschmitzt gelächelt, als er vorgeschlagen hatte, sie solle doch eine echte japanische Spezialität bestellen. Während Frau Watanabe mit dem Kellner spricht und dabei auf ein großes Aquarium deutet, das hinter der Theke des Restaurants steht, bezweifelt Herr Hoffmann, dass das eine gute Idee war. Schnell nimmt er einen großen Schluck von dem eiskalten Sapporo-Bier.
Frau Watanabe fragt ihn, ob ihm das Sushi neulich geschmeckt habe. Herr Hoffmann atmet auf. Ah, es soll also wieder Sushi geben – ein Glück!
»Ja, danke. Ich dachte immer, dass roher Fisch nichts für mich ist, aber das Sushi fand ich lecker.«
Frau Watanabe lächelt.
Auf einmal kommt Bewegung in das Aquarium. Einer der Küchenchefs angelt mit einem Netz einen Fisch heraus. Der Fisch zappelt, wird aber durch einen Schlag mit dem Griff des Küchenmessers betäubt. Die noch im Aquarium verbliebenen Fische starren fassungslos dem Küchenchef nach, der nun ihren Freund in die Küche trägt. Kurz darauf – ein bisschen ZU kurz vielleicht – serviert der Kellner eine Platte mit dem Fisch. Frau Watanabes Augen leuchten und sie nimmt ihre Stäbchen in die Hand. Der Fisch sieht noch aus wie im Aquarium, Kopf und Schwanz sind noch vorhanden, nur in der Mitte ist der Körper zu kunstvollen sashimi-Filets verarbeitet.
Herr Hoffmann greift nun auch zu seinen Stäbchen und führt diese zögerlich an den Fisch heran. »Der lebt ja noch!« Gerade hat der Fisch den Kopf bewegt. Nun zuckt auch noch der Schwanz.
Frau Watanabe nickt und angelt mit ihren Stäbchen geschickt ein Stückchen sashimi aus dem offenen Körper des lebenden Fischs: »Ja, sehr frisch!«
Herr Hoffmann schaut zum Aquarium. Die Fische starren ihn anklagend an. ›Seht mal, der Typ da frisst Robert bei lebendigem Leibe!‹, scheinen sie zu sagen. Heißen japanische Fische überhaupt Robert? Oder eher Hiroto? Schuldbewusst schaut er wieder auf die Platte. Robert (oder Hiroto) zuckt noch immer mit dem Schwanz. Herr Hoffmann nimmt seine Stäbchen und greift damit ein Stück von dem dünn geschnittenen Rettich, der neben dem Fisch drapiert liegt. Lange kaut er auf dem Rettich herum und überlegt, ob es wohl sehr unhöflich ist, in Japan ein Essen abzulehnen.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Um diese Frage zu klären, reisen wir zunächst einmal in die Vergangenheit. Genauer gesagt, zum 8. Juli 1853. An diesem Tag tauchen vier schwarze Schiffe vor der Küste der Stadt Edo (des späteren Tôkyô) auf – dies ist der Anfang vom Ende des alten Japan. An Bord: der amerikanische Kommodore Matthew Calbraith Perry mit der Mission, Japan zu einem Ultimatum zu zwingen.
Der Grund: Seit über 200 Jahren verfolgt der Inselstaat nun eine Politik des ›geschlossenen Landes‹. Handel ist nur den Chinesen und Niederländern unter strengen Beschränkungen erlaubt. Das soll sich nun ändern. Dank der überlegenen Waffentechnik der Amerikaner bleibt der Militärregierung, dem Shôgunat, nichts anderes übrig, als die Forderungen zu akzeptieren. Es kommt zu ungleichen Verträgen, die für die Amerikaner sehr viel günstiger sind als für die Japaner. Weitere Abkommen mit Großbritannien und Russland folgen – ebenfalls nicht zugunsten Japans.
Die Militärregierung verliert zunehmend an Autorität. Schließlich befreien am 3. Januar 1868 verbündete Streitkräfte den 16-jährigen Kaiser Mutsuhito (1852–1912, später Meiji, erleuchteter Herrscher) aus seinem Palast in Kyôto. Seit über 600 Jahren regiert nun erstmals wieder der Kaiser das Land.
Die neue Regierung setzt auf einen radikalen Modernisierungskurs. Zu spät hat man während der jahrhundertelangen Isolation gemerkt, dass das Ausland