Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
von einem Neuankömmling gefragt, ob er auch wirklich der Letzte sei: »Wy posljednyj?« So klingt das dann auf Russisch. Auch wenn es offensichtlich ist und sonst weit und breit niemand zu sehen ist.
Solche Fragen hängen wiederum mit einer beliebten Abwandlung der Schlangenkultur zusammen: dem »Platzhalter-Phänomen«. Die Spielregeln sind einfach: Man sagt einfach seinem Hintermann kurz Bescheid, dass man später wiederkommt, und nutzt die gewonnene Zeit, um andere Besorgungen zu erledigen. So kann es sein, dass zwar nur drei Menschen sichtbar in der Schlange stehen, diese allerdings weitere zehn Plätze »hüten«. Und so reißt die Warteschlange nur schleppend ab, da immer wieder jemand hinzukommt, der schon einmal da gewesen war.
Doch zurück nach Deutschland: Der Bär in der Frankfurter Abfertigungshalle mag nicht sonderlich höflich wirken. Nun ja, vielleicht stand er bereits vorher in der Schlange und ist nun wieder zurückgekehrt? So genau wissen wir das nicht, da unser Herr Müller ja erst Russisch lernt und ihn nicht verstanden hat. Das soll kein Plädoyer für Drängler sein, aber ganz so unschuldig ist der Karlsruher Geschäftsmann auch nicht. Dieser hat sich nämlich, nachdem er schon länger in der Schlange stand, nicht wirklich dynamisch mitbewegt – zumindest für russische Maßstäbe. Dadurch, dass er nicht aufgerückt war, entstand eine Lücke. Und in diesen Zwischenraum hat sich der »Bär«, letztlich auch hineingeschoben, da er dachte, Herr Müller würde einfach so in der geschäftigen Halle herumstehen – statt in der Warteschlange.
Der »Bär« ist Russe, Herr Müller Deutscher. Beide haben eine unterschiedliche Auffassung von Körperdistanz. Entsprechend nah ist Herr Müller – zumindest für sein eigenes Empfinden – zum Vordermann aufgerückt. Für unseren »Bären« war das jedoch zu viel Zwischenraum und daher hat er diesen Abstand als »Nicht-Anstehen« interpretiert. Die so genannte Intimzone beginnt im westlichen Europa etwa bei einer Armlänge Entfernung vom Körper: In diese Sphäre werden nur nahestehende Menschen hineingelassen. Wer in diesen Radius eindringt, wie es der »Bär« getan hat, wird als unangenehm und aufdringlich empfunden.
Die Auffassung, was als Intimzone gilt, unterscheidet sich – was manch einen Westeuropäer ganz schön irritieren kann. Wenn die Intimzone so knapp bemessen ist, was folgt danach? Die so genannte persönliche Zone, mit einer Distanz zwischen einem halben Meter und einem Meter. Steht also jemand einen Meter von Ihnen entfernt und unterhält sich mit Ihnen, ist das angenehm – ohne als aufdringlich empfunden zu werden. Der Abstand bis zu vier Metern, also rund um die Warteschlange am Check-in-Schalter wäre die soziale Zone, der gesamte Frankfurter Flughafen die öffentliche Zone.
Doch zurück zu unserem Protagonisten: Herr Müller weiß noch nicht, was er in Moskau täglich – spätestens jedoch bei seiner ersten Fahrt mit der Metro, wie die U-Bahn dort genannt wird – erleben wird. In der Metro wird ein für westliche Ausländer recht befremdliches Spiel gespielt. Es heißt »Kniekehle-an-Kniekehle«. Hält man auf der Rolltreppe eine Stufe »Sicherheitsabstand« zum Vordermann, wird es vermutlich nicht allzu lange dauern, bis ein Überholender den Zwischenraum auffüllt. Dass man dabei den Atem des Hintermanns regelrecht im Nacken spüren kann, scheint niemanden ernsthaft zu stören. Der geringere Abstand in der Intimzone und der persönlichen Zone gilt generell für Warteschlangen aller Art: Stellt man sich in einer Bank an, kennt man gewöhnlich recht bald die Hausnummer und Höhe der Kreditrate der Mitwartenden.
Doch woher kommt das? Die geringere Körperdistanz in der Öffentlichkeit hängt zuweilen mit den beengten Lebensverhältnissen vieler Russen zusammen: Wohnraum in Großstädten ist knapp, oft leben mehrere Generationen in einer Wohnung oder gar in einer Kommunalwohnung, die umgangssprachlich kommunalka genannt wird. Solche Gemeinschaftswohnungen waren in der Sowjetunion weit verbreitet: Mehrere Familien teilten sich Küche und Bad miteinander. Entsprechend werden die Begriffe »Enge« oder »Privatsphäre« anders aufgefasst als in Westeuropa. Noch heute wohnt fast ein Zehntel der Stadtbevölkerung von St. Petersburg, früher eine Hochburg dieser Wohnungsform, in einer kommunalka. Auch wenn in den vergangenen Jahren viele Kommunalwohnungen verschwunden sind und saniert wurden, gibt es sich noch. So günstig das Wohnen dort sein mag: Das Zusammenleben in einem einzigen Zimmer führt nicht selten zu zerrütteten Ehen, da es keine Ausweichmöglichkeiten gibt. Andererseits sollen in einer kommunalka schon viele Liebesgeschichten begonnen haben. Einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren, Viktor Jerofejew (»Die Moskauer Schönheit«), bezeichnete die kommunalka einmal als »Vorhölle«.
Eine unterschiedliche Auffassung von Privatsphäre gilt übrigens auch für Besucher in russischen Wohnungen. Wenn Sie bei Freunden oder in einer Gastfamilie untergebracht sind und sich in ihr Zimmer zurückziehen möchten, werden Sie vermutlich nicht lange ungestört bleiben: Ihr Gastgeber hat Angst, dass Sie sich langweilen könnten, und wird Ihnen vermutlich einen Tee anbieten oder die Nase zum kurzen Plausch durch die Zimmertür hineinstecken.
Was können Sie besser machen?
Erinnern Sie sich an eine Retro-Zigarettenreklame, die in den 1980er-Jahren aktuell war? »Wer wird denn gleich in die Luft gehen?«, appellierte ein zufrieden lachendes Männchen namens Bruno an die Verbraucher. Vielleicht sollten wir Herrn Müller solch einen Aufkleber mit auf den Weg geben, den er im Bedarfsfall an die Felljacke eines Vordermanns heften kann? Die Warterei in Menschenschlangen kann manchmal ganz schön nervenaufreibend sein, allerdings wird in Russland deswegen niemand wutentbrannt aus der Haut fahren. Vielmehr harren die meisten Russen mit einer fast stoischen Geduld aus. Machen Sie es wie die Russen: Bleiben Sie immer freundlich und gelassen, denn ändern können Sie die Situation ohnehin nicht! Wenn Sie aufbrausend werden, könnten Sie nur ihr Gesicht verlieren!
Wenn Sie Ihr Gesprächspartner (den Sie natürlich schon kennen) am Ärmel anfasst oder umarmt, dann betrachten Sie das als echten Sympathiebeweis: Ihr Gegenüber mag Sie und will Ihnen keines-falls »auf die Pelle rücken«, zumindest nicht bewusst. Er hat nur eine andere Auffassung von Körperdistanz als Sie, also eine größere »persönliche Zone«, die sich mit Ihrer »Intimzone« überlappt.
Und wenn jemand in der Warteschlange, etwa am Bankautomaten, Einsicht in Ihre Kontobewegungen hat, da er so dicht hinter Ihnen steht – nehmen Sie es gelassen! Umgekehrt erfahren Sie ja auch von seiner finanziellen Misere. Wieder zurück in Westeuropa sollten Sie dieses Spiel allerdings nicht bei Ihrer Hausbank versuchen: Anderswo wirkt das »Atme-deinem-Vordermann-in-den-Nacken«-Spiel und Ignorieren der Wartelinie doch recht befremdlich.
2
HERR MÜLLER IM SOG DER HANDYMANIE
WIESO KANINCHEN TELEFONIEREN KÖNNEN
»Allo?«
Herr Müller reißt die Augen auf.
»Allo-o-o-o?«
Ein Weckruf? Nein! Ein russisches Allo entspricht dem deutschen »Hallo« bei der privaten Begrüßung am Telefon (bei Unternehmen hat sich die Nennung von Namen oder Firmennamen in den vergangenen Jahren zunehmend durchgesetzt). Verschlafen blinzelt der Karlsruher Geschäftsmann um sich. Sein Blick fällt auf den Sicherheitsgurt, der seine Hüften umspannt. Ach richtig, er war im Flugzeug nach Moskau eingeschlafen. Ein lautes Prassen lässt ihn aufschrecken, als würden sich gerade alle Hagelwolken am Himmel kollektiv über dem Flugzeug ergießen. Klatschende Hände neben ihm, vor ihm, hinter ihm! Autsch! Ein Ellenbogen bohrt sich unsanft in seine Rippen. Sein Blick folgt dem Arm, der dazu gehört und seine linke Armlehne komplett in Beschlag genommen hat. Ein weißes Kaninchen? Herr Müller reibt sich die Augen. Vielleicht hätte er doch nicht so lange schlafen sollen, nun kommt er ja gar nicht mehr zu sich.
Das weiße Kaninchen klatscht immer noch. Dabei wippt der pelzige Ellenbogen aufgeregt auf und ab, als wolle er die Lebensdauer von Herrn Müllers Sakko mutwillig verkürzen. Der Geschäftsmann verzieht das Gesicht. Ein Redeschwall ergießt sich über ihn, das Kaninchen klingt aufgeregt.
Gerade will er seiner neuen Bekanntschaft seinen russischen Paradesatz präsentieren: »Ja Vas ne ponimaju.« (»Ich verstehe Sie nicht«; bitte