Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert

Fettnäpfchenführer Russland - Veronika Wengert


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Gontscharow. (Sie ahnen es schon: Fjodors Vater hieß Jewgenij, so die russische Form für Eugen.) Natascha hat jedoch noch ein -a am Ende ihres Nachnamens, da sie weiblich ist. Ihr voller Name lautet also Natascha Fjodorowna Gontscharowa.

      Kompliziert? Für westliche Ausländer sind die vielen Vor- und Vatersnamen, die ihnen in Russland unterkommen, nicht immer einfach zu merken. Mit ein wenig Übung dürfte es allerdings klappen. Dann bleibt man in der Regel beim Vor- und Vatersnamen, aber in Kombination mit einem Wy (»Sie«) für die russischen Kollegen. Geduzt wird meist nicht so schnell wie in Deutschland. Es kann durchaus mehrere Jahre dauern, bis man zu dieser vertrauten Anredeform übergeht (wenn man nicht gerade in einem IT-Start-up oder in der Social-Media-Branche oder in einem ähnlichen, westlich geprägten, jungen Berufsfeld). Ist man sich jedoch ein wenig näher gekommen, darf man sich durchaus beim Vornamen nennen, das ist unter Freunden üblich.

      Wenn Herr Müller Natascha, eine junge Frau, die in der Geschäftshierarchie unter ihm steht, nur mit Vornamen anspricht, wird ihm das keiner verübeln. Denn zum einen ist er Ausländer, zum anderen ihr Vorgesetzter. Der darf in Russland seine Mitarbeiter durchaus duzen, auch wenn umgekehrt keine Gleichberechtigung herrscht. Hier greift eine streng hierarchische Ordnung, die im russischen Geschäftsleben deutlich ausgeprägter ist als in Westeuropa.

      Dass Herr Müller seine Assistentin allerdings mit priwjet anredet, ist ein Fettnäpfchen. Denn das ist die russische Variante für »Hallo«, allerdings unter Freunden. Im Geschäftsleben (und erst recht in Herrn Müllers konservativem Öl- und Gassektor) bleibt es bei einem förmlicheren sdrawstwujte, was sich etwa mit »Seien Sie gegrüßt« übersetzen lässt. Je nach Tageszeit kommen die entsprechenden Phrasen dobroje utro (»Guten Morgen«), dobryj djen (»Guten Tag«) oder dobryj wetscher (»Guten Abend«) zum Einsatz. Manchmal wird noch die typische Small-Talk-Eröffnungsfrage Kak djela (»Wie geht’s?«) angeschlossen, die jedoch, wie priwjet, zu salopp für Geschäftspartner in klassischen Branchen ist.

       Was können Sie besser machen?

      Sollte Herr Müller sein Lächeln nun auch einfrieren? Nein, natürlich nicht. Aber er sollte sich darauf gefasst machen, dass seine künftigen Mitarbeiter zunächst reserviert auftreten könnten und nur langsam auftauen. Er sollte weiterhin freundlich bleiben und lächeln, dann dürfte das schon irgendwann werden!

      Wundern Sie sich nicht, wenn Frauen, vor allem in Provinzstädten (nicht jedoch in Moskau und St. Petersburg), morgens um zehn wirken, als würden sie gleich zu einem Stehempfang gehen – mit pinkfarbenem Cocktailkleid, High Heels und kräftig rotem Lippenstift. Genießen Sie das feminine Auftreten und die Weiblichkeit, die die meisten russischen Frauen ausstrahlen. Vor allem, wenn Sie ein Mann sind. Sind Sie hingegen eine Frau, dann lassen Sie die alte Lieblingsjeans und die bequemen Sneakers getrost zu Hause. Und überlegen Sie, ob Sie den Rucksack nicht lieber durch eine elegante Handtasche ersetzen sollten – um nicht zu sehr als Ausländerin aufzufallen. Bei beruflichen Verhandlungen sollten Sie nicht zu salopp auftreten und einen Hosenanzug oder Zweiteiler anziehen. Dabei ist noble Eleganz angesagt, mit klassischen Pumps (oder sonstigen femininen Schuhen), die im Winter durchaus durch ebenso elegante Stiefel ersetzt werden können.

      Apropos Stiefel: Dies werden Sie auf russischen Straßen zur Genüge entdecken, also gefütterte Lederstiefel zu kurzen Röcken. Im Büro werden die Stiefel jedoch oftmals von weiblichen Mitarbeiterinnen durch grazile Pumps ausgetauscht, die man entweder unter dem Tisch lagert oder in einer Plastiktüte mit sich führt. Und nein, mit Winterstiefel sind keineswegs die traditionellen walenki gemeint, graue Filzstiefel.

      Auch Herr Müller sollte seine Kleidung vielleicht noch einmal prüfen, da er einen Rollkragenpulli eingepackt hat. Den sollte er bei den bevorstehenden Verhandlungen mit der RosInGaz lieber im Schrank lassen und zu Krawatte, Hemd und Sakko greifen – auch wenn er seinen Lieblingsrolli bei Besprechungen in Karlsruhe ganz gerne trägt. Aber: Der legere Look vieler westlicher Ausländer wird im russischen Geschäftsleben eher kritisch betrachtet. Das Outfit muss einfach stimmen, vor allem, wenn man Geschäfte machen will. Und letztlich hängt davon auch die Wertschätzung der beruflichen Partner ab, da man auch danach beurteilt wird, mit wem man sich einlässt. Und da will sich verständlicherweise niemand die Blöße geben. Aber das gilt natürlich nicht unbedingt für die neuen Trendbranchen: Berufsblogger oder Influencer stehen ihren westlichen Mitstreitern in nichts nach.

      Noch etwas: Trainieren Sie schon mal einige Vor- und Vatersnamen, damit Sie diese gleich parat haben, wenn Sie einem Geschäftspartner vorgestellt werden. Übrigens wäre Paul Müller in Russland Paul Wolfowitsch Müller, da sein Vater eben Wolf hieß.

      Und wie wäre ihr Name? Legen Sie sich schon mal einen zurecht, falls Sie gefragt werden, auch wenn sie als Ausländer vermutlich nie davon Gebrauch machen werden.

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       HERR MÜLLER GEHT UNTER DIE CO-RENNFAHRER

      Mischa ist ein Hüne. Zu Sowjetzeiten war er als Kernphysiker tätig, heute ist er Fahrer für die Repräsentanz, die Herr Müller leiten wird. Was für eine Verschwendung von Potenzial! Aber man sollte in Russland niemanden nach seinem gegenwärtigen Beruf beurteilen, vor allem nicht in Moskau und St. Petersburg. So arbeiten viele Germanistinnen als Sekretärinnen und Wissenschaftler als Kellner. Moskau und St. Petersburg sind die teuersten Städte des Landes, und selbst wer eine Eigentumswohnung hat, kommt kaum mit nur einem Job über die Runden, sondern hat noch eine Nebentätigkeit. Ohne Arbeit zu sein kann sich niemand leisten.

      In den Händen des großen, athletischen Fahrers wirkt das Lenkrad des schwarzen Wolga wie ein Spielzeug. Mit quietschenden Reifen setzt Mischa den Wagen vor dem Flughafen in Gang, während Herr Müller noch am Sicherheitsgurt nestelt.

      Wolga heißt nicht nur Russlands längster Fluss, sondern auch eine Automarke. Diese rollt im zentralrussischen Nischnij Nowgorod vom Band, wo die GAS-Werke seit 1932 angesiedelt sind. Gegründet wurde die Fabrik im Zuge des ersten Fünfjahresplans der Sowjetunion.

      GAS/GAZ ist übrigens eine Abkürzung für Gorkowskij Awtomobilnyj Sawod, dem Gorkier Autowerk. Nischnij Nowgorod hieß zu Sowjetzeiten Gorkij, daher steckt die alte Städtebezeichnung noch im Firmennamen. International durchgesetzt hat sich allerdings die englische Transkription GAZ, auf Deutsch wird das Werk auch als GAS transkribiert.

      »Njet!«, winkt Mischa ab, der die Fellmütze auch im Auto aufbehält (diesmal eine Variante mit herunterklappbaren Ohrteilen, die sich auf dem Kopf zusammenschnüren lassen). »Nje nado!« Mischa klingt bestimmt.

      Ob der Gurt möglicherweise kaputt ist? Ein Bekannter sei bei einem Unfall von einem Gurt stranguliert worden, übersetzt Natascha Mischas Argument gegen das Anschnallen.

      Mischa steuert den Wagen auf eine mehrspurige Ausfallstraße, die ins Zentrum von Moskau führt, den Leningradskij Prospekt. Der Straßenname wurde beibehalten, auch wenn Leningrad heute längst St. Petersburg heißt. Doch halt, nur fast: Denn das Verwaltungsgebiet um die zweitgrößte russische Stadt nach Moskau hat weiterhin seinen alten Namen behalten: Leningradskaja oblast. Überhaupt heißen einige der rund zwei Dutzend großen Ausfallstraßen in Moskau so wie der Ort oder die Gegend, in deren Richtung sie führen.

      Überdimensionale Werbeplakate, von denen Mandelaugen und rote Münder hinablächeln, ziehen im Schneckentempo vorbei. So viel Anmut inmitten von hohen grauen Schneebergen stimmt Herrn Müller vergnügt. Doch die Freude währt nur kurz, denn zwei Stunden später steckt der Wolga immer noch in der Blechkolonne fest.

      Der Stau löst sich schließlich auf – und Mischa gibt Gas. Nun scheint sich der Fahrer fast wie bei einem Skislalom zu fühlen. Zuerst ersetzt ein tannengrüner Schiguli die fehlenden Slalomstangen, dann ein mannshoher Jeep mit getönten Scheiben. Das Einfädeln funktioniert nach folgendem Prinzip: Blinker setzen ist verpönt, ebenso darf der Fuß keinen Millimeter vom Gas bewegt werden.

      Paul


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