Fettnäpfchenführer Russland. Veronika Wengert
entdeckt, das unter der voluminös aufgetürmten Haarpracht hervorblitzt, hält er inne. Aha, das Kaninchen unterhält sich ja überhaupt nicht mit ihm! Glück gehabt, dann würde er mit seinen marginalen Russischkenntnissen wenigstens nicht ins Stottern kommen ...
Aber: Was hat das Kaninchen eigentlich so dringend zu bereden, während das Flugzeug noch mit voller Kraft voraus die Landebahn entlangbrettert? Herr Müller ist verunsichert.
»Allo?« Diesmal ertönt der gleiche Ruf aus der hinteren Sitzreihe. Er dreht sich um. Und da, noch einmal vorne, ein lang gezogenes »Allo-o-o-o?« Ist das ein Ankunftsritual der Russen, wenn sie in ihrer Heimat landen? So wie der Papst erst mal den Boden zur Begrüßung küsst?
Nun schrillt es hinter ihm. Herr Müller ist verwirrt. Was war das nur für ein Land, in dem alle Passagiere bei der Landung kollektiv »Allo!« brüllen? Und dazu auch noch Beifall klatschen! Und überhaupt, seit wann können weiße Kaninchen eigentlich telefonieren?
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Herr Müller hat, noch vor seiner Ankunft in Moskau, einen beliebten russischen Volkssport kennenlernt: die Handymanie. Wozu hat man denn ein Mobiltelefon oder neuerdings Smartphone, wenn man es nicht nutzt? So wird in Russland gerne immer und überall telefoniert, sei es im Kino, in der Sauna oder während einer Geschäftsbesprechung – wo immer es ein Empfangssignal gibt. Und einzig darauf kommt es an! Und was ohnehin alle Mitreisenden im Flugzeug längst schon wissen, erfährt so auch der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Und zwar in Echtzeit, nur gefühlte Nano-Sekunden nach dem Aufsetzen der Räder: »Wir sind soeben gelandet!«
Doch wem müssen sich die russischen Passagiere überhaupt so eilig mitteilen?
Den Angehörigen! Denn die Familienbande sind längst nicht so lose wie in Westeuropa. Meist leben mehrere Generationen unter einem Dach, sei es auf dem Land oder in einer engen Stadtwohnung. Dazu sind sie in der Regel auch gezwungen, denn Wohnraum ist knapp und die eigenen Mittel meist ebenso. Durch die räumliche Nähe bleiben sich die Generationen länger verbunden, auch wenn der eigene Nachwuchs längst schon flügge und ergraut ist. Entsprechend bekommen nicht nur der Partner und die Kinder den eigenen Alltag mit, sondern auch die Eltern, Schwiegereltern oder sonstige Verwandte, die mit unter einem Dach leben – so beispielsweise auch die heile Landung mit dem Flugzeug.
Tun wir den russischen Passagieren aber nicht unrecht. Viele, die etwa auf dem internationalen Moskauer Flughafen Scheremetjewo landen, rufen auch einfach aus pragmatischen Gründen an: Sie haben sich mit Verwandten oder einem Fahrer verabredet, der sie abholen soll. Das Parken auf dem Flughafen ist nicht wirklich günstig, den »fliegenden« Einstieg im Vorbeifahren schafft man jedoch kostenlos, wenn man das Gelände innerhalb einer kurzen Zeit wieder verlässt. Daher bildet sich manchmal außerhalb des abgezäunten Flughafengeländes eine Autoschlange: Das sind in der Regel Abholer, die auf das erlösende Telefonat warten, um die Ankommenden im Vorbeifahren einzusammeln.
Was das weiße Kaninchen betrifft. Selbstverständlich hat dieses weder Pfötchen noch ein Stummelschwänzchen. Vielmehr beginnt Herr Müller schon vor seiner Ankunft in Russland, alle Pelzmäntel mit den Tierarten gleichzusetzen, aus deren Fell sie genäht wurden (siehe auch die Begegnung mit dem Braunbär im Kapitel »Herr Müller geht auf Tuchfühlung«). So schult er, wenn auch unbewusst, sein Auge schon mal für etwas, das die meisten Russen sehr gut beherrschen: Denn während für viele westliche Ausländer Pelz gleich Pelz ist, egal ob Kaninchen, Fuchs oder Zobel, und dessen Tragen ebenso verpönt ist, wie mit einem Bunny-Kostüm in einem Beichtstuhl aufzutauchen, so erkennen die meisten Russen ziemlich genau, aus welchem Fell der Mantel hergestellt wurde. Und können entsprechend auf den sozialen Status des Pelzträgers schließen.
Machen wir uns nichts vor: Kaninchen sind eher in der unteren Preisklasse angesiedelt, also wird Herr Müllers Sitznachbarin vermutlich nicht allzu betucht sein. Das wird der Karlsruher Geschäftsmann später noch in seinem Hotel merken, wenn er die Tierhaare von seinem Sakko wieder entfernen muss, da günstige Pelze manchmal ganz schön haaren können.
Eigentlich ist es ja eher selten, dass Russinnen ihre Pelzmäntel im Flieger anlassen. Die Mützen lassen sie hingegen meist auf, da die Frisur nach Abnehmen der schapka oftmals einem Vogelnest gleicht und gefährliche Greifvögel zur Beutejagd animieren könnte. Eine russische Fluggesellschaft weiß, zumindest laut der deutschen Wirtschaftszeitung »Handelsblatt«, was ihre weiblichen Fluggäste anderswo immer wieder vermissen: ausreichend Platz für Pelzmäntel!
Was können Sie besser machen?
Nein, Sie müssen sich jetzt keinen Pelz kaufen, unablässig ins Handy brüllen und anfangen, bei der Landung in die Hände zu klatschen, um in Russland nicht als Ausländer aufzufallen. Aber wundern Sie sich dann nicht, wenn sie beim Aufsetzen des Flugzeuges vielleicht mitleidig angeschaut werden, da Sie niemanden haben, den sie anrufen können. Vielleicht haben Sie ja auch einen Fahrer, der auf Sie wartet und dem Sie dann Ihr persönliches »Allo-Allo-Mantra« via Handy entgegenbrüllen können. Apropos Smartphone: Machen Sie sich auf so einiges gefasst! Klingeltöne in fast allen Arten und Abarten stehen in Russland ungebremst hoch im Kurs!
Und schenken Sie sich den Landeapplaus im Flieger getrost. Wozu auch? Die klatschenden Passagiere sind vermutlich einfach heilfroh, wieder auf der Erde angekommen zu sein. Aber genau das ist doch der Job eines Flugkapitäns, nicht wahr? Also wieder auf dem Asphalt aufzusetzen! Sie klatschen ja auch nicht, wenn Ihnen eine Backwarenfachverkäuferin oder ein Verkäufer ein Brot über die Theke schiebt, nur weil diese ihren Job erfüllt hat!
Globalen Tierschutz-Kampagnen zum Trotz: Pelzmäntel und Mützen, schuba und schapka genannt, haben in Russland nach wie vor Konjunktur und einen hohen Stellenwert, über den sich nicht nur die Elite definiert. Kaum jemand würde auf die Idee kommen, sich darüber aufzuregen, ob das nun unmoralisch oder politisch unkorrekt gegenüber dem Tier sein könnte. Gut, bei der jüngeren, westlichen Generation in den Großstädtchen hat bereits ein Umdenken eingesetzt. Wenn Sie sich allerdings in Russland einen Pelz kaufen, da in München oder Bonn erstandene Skijacken bei minus 30 Grad Celsius nichts mehr hergeben und die Kälte unerbittlich ins Knochenmark kriecht, sollten Sie damit vielleicht nicht unbedingt nach Deutschland reisen, wenn Sie böse Blicke vermeiden wollen!
So befremdlich Herr Müller die allgegenwärtigen Pelzmützen zunächst auch finden mag (vor allem solche mit herunterklappbaren Ohrteilen für Männer), so wird er sich »oben ohne« nicht nur als Ausländer outen – sondern vor allem schrecklich bibbern. Warme Kopf- und Ohrenbekleidung ist ein Muss, da 30 Prozent Wärmeverlust über die Kopfhaut erfolgt. Eine dicke Fellmütze mit Ohrenschutz ist die Rettung!
3
HERR MÜLLER STELLT SICH VOR
ROTE LIPPEN SOLL MAN — BESSER NICHT MIT HANDSCHLAG BEGRÜSSEN
Rote Lederjacke, kurzer schwarzer Rock und die Lippen kräftig nachgezogen. So steht sie hinter der Absperrung im Moskauer Flughafen Scheremetjewo vor ihm. Beine bis zum Himmel, sicher so hoch wie der Eiffelturm. Oder zumindest wie die Pyramide auf dem Karlsruher Marktplatz. Und diese wundervollen rosigen Wangen!
Herr Müller starrt die brünette junge Frau, die einen Papierausdruck mit der umlautlosen Aufschrift »Paul Muller« in der Hand hält, verwirrt an.
Nein, ein schönes »ü«, also einen Umlaut in seinem Namen, wird Herr Müller in den kommenden beiden Jahren nicht wirklich zu hören bekommen. Von Miller über Mjuller über Muller reicht die Aussprache-Palette seines Namens in Russland. Würde er ihn buchstabieren, dann wohl am ehesten als Mjuller, um verstanden zu werden, denn das »ü« wird im Russischen als der kyrillische Buchstabe »ю« (sprich: ju) dargestellt.
Aber darum geht es erst mal nicht. Beim Anblick der bildschönen Frau mit dem Schild hält Herrn Müllers Unterkiefer der Schwerkraft nicht mehr stand. Das muss Natascha