Mechanik. Michael Schulz
Theoretischen Physik ist es, durch Verallgemeinerung experimenteller Erfahrungen oder durch grundsätzliche theoretische Überlegungen fundamentale Grundsätze, sogenannte Axiome, aufzustellen und deren Allgemeingültigkeit dadurch zu bestätigen, dass alle aus ihnen auf mathematischem Wege abgeleiteten speziellen Gesetzmäßigkeiten in keinem Widerspruch zu experimentell bekannten Resultaten stehen. Zum anderen ist es aber auch Aufgabe der Theoretischen Physik, aus den wenigen Axiomen auf deduktivem Wege neue Gesetze abzuleiten, die ihrerseits Anregungen für die experimentelle Forschung geben können.
1.3 Aufbau der Lehrbuchreihe Theoretische Physik
Man könnte nun daran denken, den Kurs in Theoretischer Physik mit möglichst fundamentalen Grundgleichungen, z. B. der Dirac-Gleichung der relativistischen Quantenmechanik, zu beginnen und dann die verschiedenen Grenzfälle der nichtrelativistischen Quantenmechanik, der relativistischen Mechanik und der klassischen Mechanik daraus abzuleiten. Ein solches Vorgehen scheint sicher logisch, aber ob es didaktisch geschickt wäre, ist eher unwahrscheinlich. Außerdem ist die Suche nach den Fundamentalprinzipien der Physik nicht abgeschlossen, sodass der Startpunkt eines solchen generischen Konzeptes momentan gar nicht klar definiert werden kann.
Band I dieser Lehrbuchreihe zur Theoretischen Physik enthält die klassische Mechanik, die sich im Wesentlichen mit der Bewegung von Systemen aus punktförmigen Objekten befasst. In diesem Lehrbuch wird auch die relativistische Mechanik als Erweiterung der Newton’schen Mechanik, behandelt.
Daran anschließen wird sich das zweite große Gebiet der klassischen Physik, die Elektrodynamik. In diesem Band wird die mathematische Beschreibung von Feldern systematisch eingeführt und auch eine kurze Darstellung der Grundzüge der relativistischen Feldtheorie gegeben. Band III enthält die Grundlagen der Quantenmechanik, in der feldtheoretische und mechanische Ideen zu einem gemeinsamen Konzept zusammengefasst werden. Mit den Kenntnissen der Theoretischen Quantenmechanik ist eine sehr erfolgreiche Beschreibung von Phänomenen auf atomaren und subatomaren Skalen verbunden, die im Rahmen der beiden großen klassischen Theorien nicht möglich war. Der vierte und letzte Band des Kurses Theoretische Physik enthält die Thermodynamik und Statistik. Hier werden Konzepte vermittelt, um Systeme mit einer großen Zahl mikroskopischer Partikel systematisch auf makroskopischen Skalen beschreiben zu können. Wir werden sehen, dass in diesem Band viele Begriffe und Ideen zusammenfließen, die in den vorhergehenden Bänden erarbeitet wurden.
1.4 Stellung der klassischen Mechanik in der Theoretischen Physik
Der Einstieg in die Theoretische Physik beginnt in der Regel mit dem Teilgebiet Theoretische Mechanik. Das hat vor allem historische und didaktische Gründe. Insbesondere glaubte man im 19. Jahrhundert, alle physikalischen Erscheinungen im Rahmen der Mechanik erklären zu können. Diese damals sehr populäre Auffassung wurde vor allem von der philosophischen Richtung des Mechanismus vertreten. Als typisches Beispiel soll hier die Äthertheorie erwähnt werden, die eine wesentliche Rolle bei der Interpretation des Elektromagnetismus spielte. Der Äther wurde als Trägermedium eingeführt, um die Ausbreitung elektromagnetischer Wellen auf mechanische Weise erklären zu können. Der Mangel dieses mechanisch-theoretischen Konzeptes bestand von Anfang an darin, dass der Äther durch objektive Beobachtungen nicht verifizierbar war; schließlich konnte seine Existenz sogar experimentell widerlegt werden. Inzwischen hat man es längst aufgegeben, die physikalische Umwelt in ein mechanisches Bild zu pressen. Aber die ursprünglich primäre Stellung der Mechanik im Gebäude der Theoretischen Physik blieb bis heute erhalten. Das ist einer der Gründe, weshalb auch die vorliegende Lehrbuchreihe zur Theoretischen Physik mit der klassischen Mechanik beginnt.
Es gibt aber auch andere, didaktische und konzeptionelle Gründe, die klassische Mechanik als Startpunkt eines allgemeinen Theoriekurses zu wählen. Dazu zählt die Tatsache, dass innerhalb der Theoretischen Mechanik wesentliche physikalische Grundgrößen geprägt werden. In der Tat stammen so generelle Begriffe wie Masse, Kraft, Impuls, Arbeit oder Energie ursprünglich aus der Mechanik.
Des Weiteren werden im Rahmen der klassischen Mechanik viele grundlegende Prinzipien zur Konstruktion von physikalischen Bewegungsgleichungen und Methoden zu deren Lösung systematisch dargestellt. Viele dieser Techniken lassen sich später zwanglos auch auf die anderen Gebiete der Physik übertragen.
Schließlich kommt die klassische Mechanik der intuitiven Anschauung und der alltäglichen Erfahrung oft entgegen. Insbesondere wird man für viele abstrakt erscheinende Resultate leicht eine adäquate und meist sehr einfache Erklärung auf einer rein qualitativen Stufe finden können. Der Umgang mit solchen Gedankenexperimenten und Bildern ist oft sehr hilfreich bei der Wahl geeigneter Lösungsmethoden und Darstellungen. Die Methode der vorbereitenden anschaulichen Diskussion eines Problems wird natürlich auch in den anderen Teilgebieten der Theoretischen Physik verwendet, aber die Struktur der klassischen Mechanik ist am besten geeignet, dies zu trainieren.
1.5 Gültigkeitsgrenzen der klassischen Mechanik
Im Laufe der Zeit hat es sich herausgestellt, dass die Gesetze der klassischen Mechanik ihre Gültigkeit verlieren, wenn Objekte beschrieben werden sollen, die sich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegen. Dann müssen die Gesetze der relativistischen Mechanik herangezogen werden.
Auf eine andere Gültigkeitsgrenze der Mechanik stößt man, wenn versucht wird, sehr kleine Teilchen, z. B. Elektronen oder Atome zu beschreiben. Für solche Probleme wird erst durch die Quantenmechanik eine adäquate Beschreibung geliefert.
Es ist aber keineswegs so, dass durch diese allgemeineren Theorien die Mechanik vollständig außer Kraft gesetzt wird. Vielmehr wird man feststellen, dass der Gültigkeitsbereich der Mechanik beschränkt ist. Wenn man zu Geschwindigkeiten übergeht, die klein verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit sind, gehen die Gesetze der relativistischen Mechanik wieder in die der klassischen Mechanik über. Analog verhält es sich, wenn makroskopische Körper im Rahmen der Quantenmechanik beschrieben werden sollen. Auch hier erhält man – ausgehend von einer quantenmechanischen Formulierung – die Gesetze der klassischen Mechanik.
1.6 Struktur des Bandes Mechanik
Lässt man einen Körper, z. B. einen Stein frei fallen, so ist bekannt, dass er nach der Zeit t einen gewissen Weg
zurückgelegt hat, wobei g die Erdbeschleunigung ist. Der Körper hat eine endliche Ausdehnung. Daher ist es eine durchaus berechtigte Fragestellung, welcher Punkt des Körpers denn nun die Strecke x zurückgelegt hat. Kandidaten gibt es hierfür beliebig viele. So könnten bei einer wenig sorgfältigen Betrachtung sowohl der Punkt P1 als auch der Punkt P2 in Abb. 1.1 infrage kommen.
Tatsächlich erweist sich aber der Schwerpunkt S des Körpers als die richtige Wahl. Wenn wir uns auf die Bewegung des Schwerpunkts konzentrieren, dann können wir von der räumlichen Ausdehnung des Körpers völlig absehen und so tun, als hätten wir einen punktförmigen Körper vorliegen, dessen Masse im Schwerpunkt vereinigt ist. Der Konjunktiv in diesem Satz bringt zum Ausdruck, dass wir den realen Körper durch ein Modell beschreiben. Dieses Modell nennt man in der Mechanik einen Massenpunkt.
Das klassische Beispiel für die Benutzung des Massenpunktmodells ist die Beschreibung der Planetenbewegung. Wir wissen natürlich, dass die Erde zu unserem Glück kein Massenpunkt ist, sondern einen Radius von rund 6000 km hat. Aber verglichen mit dem Radius der Umlaufbahn der Erde um die Sonne von rund 150 Millionen km ist dies ungefähr 0,004 %. Somit erscheint es durchaus gerechtfertigt, die Erde bei dieser Bewegung wenigstens näherungsweise als Massenpunkt zu betrachten.
Das Massenpunktmodell spielt nicht nur in der Mechanik eine grundlegende Rolle, sondern ist mit fundamentalen Problemen der Physik verbunden.