Mechanik. Michael Schulz
empirische Erfahrung in sich vereinen. Die Entscheidung darüber, welches Modell für ein Problem am besten geeignet ist, kann durch keinen Algorithmus abgenommen werden. Wir kennen zwar eine ganze Reihe von empirischen Regeln, welche die Auswahl eines sinnvollen Modells erleichtern, aber letztendlich entscheiden Intuition und Erfahrung über das verwendete Modell.
Hat man sich auf ein Modell festgelegt, dann kann dieses auf mathematische Gleichungen abgebildet werden, die systematisch gelöst werden müssen und zuletzt die entsprechenden Antworten auf das mit dem Modell verbundene Problem liefern. Der Vergleich dieser auf theoretisch-mathematischem Weg gewonnenen Resultate mit der physikalischen Realität liefert uns dann weitere Kriterien über den Nutzen des verwendeten Modells. Bei diesem Vergleich ist es wichtig, sich zu erinnern, dass das Modell eine Idealisierung und damit eine Approximation der physikalischen Realität darstellt.
1.8 Lösung von Gleichungen
Mit der quantitativen Beschreibung des Modells durch mathematische Gleichungen sind wir an einem weiteren wichtigen Punkt angekommen, der typisch für die theoretische Beschreibung physikalischer Vorgänge ist. Wir wollen die hier auftretenden Probleme an einem einfachen Beispiel erläutern. Der zurückgelegte Weg beim freien Fall kann durch die Gl. (1.1) beschrieben werden.
Wie kommt man nun auf diesen Ausdruck? Gewöhnlich verwendet man das zweite Newton’sche Grundgesetz
(1.2)
um die Bewegung eines Massenpunktes unter dem Einfluss einer Kraft zu bestimmen. Dabei bezeichnet m die träge Masse des Körpers, a seine Beschleunigung und F die auf ihn wirkende Kraft. Die Kraft beim freien Fall ist die Schwerkraft
(1.3)
mit der Erdbeschleunigung g, wobei die hier auftretende Masse m′ die schwere Masse ist. Die bisherige experimentelle Erfahrung liefert uns die Gleichheit beider Massen, m = m′.
Bis zu diesem Punkt haben wir verschiedene, experimentell gesicherte Modellannahmen eingeführt: Wir haben die Masse des fallenden Körpers in einem Punkt vereinigt, das zweite Newton’sche Axiom als Grundlage der Bewegung herangezogen, die hierin auftretende Kraft durch den mathematischen Ausdruck für die Schwerkraft ersetzt und die Gleichheit von träger und schwerer Masse verwendet.
Die resultierende Gleichung kann jetzt einer geeigneten mathematischen Behandlung unterzogen werden. Dazu orientiert man zunächst die Ortskoordinate x in Fallrichtung. Die Wahl eines geeigneten Koordinatensystems oder allgemeiner einer geeigneten Darstellung des Problems ist eine rein mathematische Fragestellung. Sie dient dazu, möglichst einfache Gleichungen zu erhalten, ändert aber nicht den physikalischen Inhalt. Auch in einem anderen Koordinatensystem kann unser Problem gelöst werden, aber wahrscheinlich mit einem höheren mathematischen Aufwand.
Als Ergebnis der Festlegung des Koordinatensystems erhalten wir eine eindimensionale Bewegungsgleichung
(1.4)
aus der wir zunächst wegen der sinnvollen Forderung m > 0 die Masse eliminieren können:
Das Ergebnis ist eine gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung, die man auch in der Form
(1.6)
schreiben kann und die jetzt durch eine zweifache Integration gelöst wird. Wir erhalten nach der ersten Integration
(1.7)
wobei ẋ0 eine noch offene Konstante und t0 die Anfangszeit sind. Die zweite Integration ührt uns dann auf das Resultat
(1.9)
(1.10)
Dieser Ausdruck sieht offensichtlich ganz anders aus als (1.1). Es handelt sich um ein Polynom zweiter Ordnung in der Zeit, das neben der Schwerebeschleunigung g noch eine Anzahl weiterer Parameter enthält, die wir allein aus dem mathematischen Lösungsverfahren erhielten, aber mit mathematischen Methoden nicht weiter spezifizieren können. Die Ursache für das Auftreten dieser neuen Terme liegt in der unvollständigen mathematischen Formulierung des Problems. Genau genommen besteht unser physikalisches Problem nicht nur aus der Bewegungsgleichung (1.5), sondern erfordert zu seiner vollständigen Formulierung noch die Angabe von Anfangsbedingungen. Setzen wir in unsere allgemeine Lösung (1.11) die Anfangszeit t = t0 ein, dann erhalten wir die Anfangsposition
(1.12)
und wenn wir (1.11) nach der Zeit differenzieren bzw. (1.8) verwenden und anschließend wieder die Anfangszeit einsetzen, erhalten wir die Anfangsgeschwindigkeit
(1.13)
Die zunächst freien Größen ẋ0 und x0 sind also Anfangsgeschwindigkeit und Anfangsort des Massenpunktes beim freien Fall. Wir erhalten unser ursprüngliches Ergebnis (1.1), wenn wir die Anfangszeit t0 = 0 wählen, den Ursprung unseres Koordinatensystems auf den Startpunkt legen und schließlich den Anfangszustand als ruhend annehmen.
Aus diesem sehr einfachen Beispiel ergeben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: Einerseits liefert die mathematische Behandlung physikalischer Probleme ganze Klassen von Lösungen, die im Prinzip alle realisierbar sind. Damit wird der allgemeine Charakter vieler physikalischer Bewegungsgleichungen deutlich.
Auf der anderen Seite enthält dieses Beispiel auch eine Warnung, die den Umgang mit theoretischen Ergebnissen betrifft. Man sollte sich immer verdeutlichen, unter welchen Bedingungen ein Resultat entstanden ist. Offenbar ist (1.1) eine spezielle Lösung des Fallgesetzes, die z. B. auf den freien Fall mit einer von null verschiedenen Anfangsbedingung nicht anwendbar ist.
2
Kinematik eines Massenpunktes
Bei