Mechanik. Michael Schulz
als Superposition von Wellen oder als System punktförmiger Teilchen beobachtet werden kann. Ausgedehnte starre Objekte stehen dagegen im Widerspruch zur heutigen Erkenntnis. Partikel, die bei der Interpretation aller Messungen als punktförmig beschrieben werden können, z. B. Elektronen und Quarks, werden als Elementarteilchen betrachtet. Alle anderen Partikel, z. B. Protonen, Atome oder Moleküle sind letztendlich aus solchen miteinander wechselwirkenden Elementarteilchen aufgebaut. Wir werden bei der Behandlung der Quantenmechanik in Band III dieser Lehrbuchreihe sehen, dass ein Elementarteilchen Träger von nur wenigen Eigenschaften ist, zu denen auch elektrische Ladungen und seine Ruhemasse gehören.
Abb. 1.1 Welcher Punkt des frei fallenden Körpers ist der richtige Bezugspunkt für (1.1)?
Bei der Behandlung der Bewegung eines Massenpunktes gibt es zwei grundsätzliche Fragestellungen. Zum Ersten kann man die Bahnkurve des Massenpunktes, etwa durch eine hinreichend genaue Vermessung, vorgeben und daraus Eigenschaften ableiten, die uns Informationen über die Ursache der Bewegung des Massenpunktes geben. Das ist die Aufgabe der Kinematik, die wir im nachfolgenden Kapitel behandeln werden.
Zum Zweiten wird aber der viel häufiger auftretende, umgekehrte Fall zu besprechen sein. Wir kennen die Ursache der Bewegung und fragen, wie die Bahnkurve des betrachteten Massenpunktes aussehen wird. Eine solche Fragestellung gehört zur Klasse der Dynamik und kann im Prinzip als Standardproblem der Theoretischen Mechanik bezeichnet werden. Wir werden uns im dritten und vierten Kapitel dieses Bandes eingehend mit der Dynamik einzelner Massenpunkte befassen.
Wenn wir uns nicht nur für die Bewegung der Erde um die Sonne, sondern die Bewegung aller Planeten im Sonnensystem interessieren, dann haben wir ein System von miteinander wechselwirkenden Massenpunkten vorliegen. Mit der geeigneten Verallgemeinerung der Theorie einzelner Massenpunkte auf Massenpunktsysteme werden wir uns im fünften Kapitel befassen. Natürlich kann man diese Theorie auch benutzen, um die mechanische Bewegung makroskopischer Körper, etwa des anfänglich diskutierten fallenden Steines zu beschreiben. In diesem Falle würde man sich den Stein aus vielen in Wechselwirkung stehenden elementaren Partikeln, etwa Atomen oder Molekülen zusammengesetzt denken, die alle den gleichen mechanischen Gesetzen unterworfen sind. Wir werden dann insbesondere feststellen, dass sich der Schwerpunkt dieses Systems so bewegt, als wäre die gesamte Masse aller Bestandteile des Steines im Schwerpunkt vereinigt.
Im sechsten und siebenten Kapitel werden wir uns mit fundamentalen Darstellungen der klassischen Theoretischen Mechanik befassen. Dabei wollen wir uns vor allem auf die Lagrange’sche und Hamilton’sche Formulierung der Mechanik konzentrieren. In den späteren Bänden dieser Lehrbuchreihe wird man erkennen, dass die hiermit verbundenen Prinzipien eine weit über die klassische Mechanik hinausgehende allgemeine Bedeutung haben.
Die Newton’sche Mechanik kennt keine obere Grenze für die Geschwindigkeit eines Massenpunktes. Tatsächlich ist aber keine Übertragung von Masse, Energie oder Informationen zwischen zwei Punkten mit einer Geschwindigkeit möglich, die größer als die Lichtgeschwindigkeit ist. Allein dieses fundamentale Naturgesetz führt zu einer völlig anderen Mechanik, deren Theorie mit der im letzten Kapitel dieses Bandes dargestellten speziellen Relativitätstheorie beschrieben wird. Mit dieser Einstein’schen Mechanik werden die Erkenntnisse der in den vorangegangenen Kapiteln behandelten Newton’schen Mechanik nicht außer Kraft gesetzt, vielmehr erweist diese sich als ein Grenzfall, der seine volle Gültigkeit für Relativgeschwindigkeiten behält, die klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind.
Abb. 1.2 Deformierbarer Körper: Unter dem Einfluss einer äußeren Kraft wird die Form des Körpers verändert.
In dynamischen Massenpunktsystemen können sich die einzelnen Massenpunkte nach wie vor relativ zueinander bewegen. Ein typisches Beispiel hierfür wären die Atome des fallenden Steines, die immer noch Schwingungsbewegungen relativ zueinander ausführen können. Tatsächlich sind aber diese Bewegungen im Vergleich zu den Abmessungen des Körpers oftmals von untergeordneter Bedeutung. In diesem Fall kann man das betreffende Objekt durch das Modell eines starren Körpers beschreiben. (Dieses Modell ist mit der endlichen Geschwindigkeit der Informationsausbreitung im Sinne der speziellen Relativitätstheorie nicht verträglich, aber diese Unverträglichkeit spielt für Geschwindigkeiten, die klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind, keine Rolle). In diesem Modell sind die Relativpositionen aller Massenpunkte zueinander unveränderlich. Damit kann das System nur noch globale Translations- und Rotationsbewegungen ausführen, während – sozusagen als äußeres Kennzeichen – die Form des betrachteten Objektes unverändert bleibt. Mit starren Körpern befassen wir uns im vorletzten Kapitel dieses Bandes.
Nehmen wir statt des Steines aber ein Stück Kunststoff (vgl. Abb. 1.2) und drücken wir mit einer Kraft F auf seine Oberfläche, so wird der Körper deformiert, und der gegenseitige Abstand der elementaren Massenpunkte dieses Körpers ändert sich. Wir werden in diesem Fall mit dem Modell des starren Körper keine gute Beschreibung des geschilderten Problems erreichen. Solche deformierbaren Körper, bei denen die Verformung nach Entlastung wieder zurückgeht, also eine elastische Deformation vorliegt, werden ebenfalls im Rahmen der Mechanik untersucht. Hier führt man anstelle der vielen Atome oder Moleküle ein deformierbares Kontinuum ein, das im Rahmen der Elastizitätstheorie behandelt wird. Diese Theorie war früher ein wesentlicher Bestandteil der klassischen Mechanik, wird aber heute eher als ein Kontinuumsgrenzfall der Festkörperphysik betrachtet.
Eine ähnliche Situation betrifft die Diskussion der Eigenschaften von Flüssigkeiten und Gasen auf der Modellebene des kontinuierlichen Mediums. Diese als Hydro- und Aerodynamik bezeichneten Gebiete der klassischen Mechanik werden heute allgemein als kontinuierlicher Grenzfall der Physik der kondensierten Materie verstanden, zumal für eine konsistente Beschreibung von Flüssigkeiten und Gasen auch thermodynamische Relationen benötigt werden.
Die mechanische Theorie von deformierbaren Festkörpern sowie von Flüssigkeiten und Gasen wird in dem vorliegenden Band nicht mehr betrachtet. Wir verweisen hier auf die umfangreich vorhandene Spezialliteratur.
1.7 Modellebenen der Theoretischen Mechanik
Bei der obigen Vorstellung der einzelnen Kapitel dieses Bandes haben wir bereits verschiedene modellhafte Darstellungen des gleichen Körpers erwähnt. So ist es sinnvoll, die Erde bei der Betrachtung der Umlaufbewegung um die Sonne als Massenpunkt zu betrachten, bei der Beschreibung ihrer Rotationsbewegung um die eigene Achse aber als einen ausgedehnten starren Körper anzusehen. Beide Modelle versagen dagegen bei der Untersuchung von Gezeiteneffekten oder der Bewegung der Materie im Erdinneren, wo man auf kontinuumsmechanische Konzepte zurückgreifen muss.
Ein ähnliches Beispiel für eine solche unterschiedliche Betrachtungsweise desselben Gegenstandes ist der fallende Körper aus Kunststoff. Solange wir uns für den zurückgelegten Weg des Schwerpunktes beim freien Fall interessieren, können wir den Körper als Massenpunkt betrachten. Interessieren wir uns für die Drehbewegung des Körpers während des Falles, dann können wir den Kunststoffkörper sehr gut als ein starres Objekt interpretieren. Wenn wir schließlich das Szenario des Aufschlags auf den Boden am Ende des freien Falls beschreiben wollen, dann müssen wir unser Objekt als einen deformierbaren Körper behandeln.
Aus diesen zwei Beispielen können wir Folgendes lernen: Je nach physikalischer Fragestellung wird man ein anderes, dem Problem möglichst adäquates Modell wählen. Welches Modell für die Behandlung eines Problems geeignet ist, wird in vielen Fällen keine triviale Entscheidung sein. Obwohl im Rahmen der theoretischen Mechanik die Modellebenen ziemlich gut klassifiziert sind, dürfen wir nicht vergessen, dass die verwendeten Modelle oft über einen