Stone Butch Blues. Leslie Feinberg

Stone Butch Blues - Leslie Feinberg


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da sei. Dafür würde die Natur schon sorgen.

      Meine Mutter bekam mich, um ihm das Gegenteil zu beweisen.

      Meine Eltern waren wütend, weil das Leben sie betrogen hatte. Sie waren erbost, weil die Ehe ihnen die letzte Gelegenheit zur Flucht genommen hatte. Dann kam ich auf die Welt, und ich war nicht wie die anderen. Jetzt waren sie wütend auf mich. Ich kriegte es jedesmal zu hören, wenn sie die Geschichte meiner Geburt erzählten.

      Regen und Wind peitschten die Wüste, als meine Mutter in den Wehen lag. Deshalb brachte sie mich zu Hause zur Welt. Der Sturm war zu heftig, um sich rauszutrauen. Mein Vater war auf der Arbeit, und wir hatten kein Telefon. Meine Mutter erzählte, als sie feststellte, daß ich gleich kommen würde, habe sie vor Angst so laut geweint, daß die alte Dineh-Indianerin aus der Wohnung gegenüber besorgt an die Tür klopfte, die Dringlichkeit der Situation sofort erfaßte und noch drei Frauen zu Hilfe holte.

      Die Dineh-Frauen sangen, als ich geboren wurde. Das hat mir meine Mutter erzählt. Sie wuschen mich, wedelten Rauch über meinen winzigen Körper und boten mich meiner Mutter dar.

      „Legt das Baby da drüben hin“, sagte sie zu ihnen und zeigte auf ein Körbchen neben der Spüle. Legt das Baby da drüben hin. Bei diesen Worten wurde den Indianerinnen ganz kalt. Das merkte meine Mutter wohl. Die Geschichte wurde im Laufe meiner Kindheit immer wieder erzählt, als könnte ihre ironisch-humorvolle Wiederholung den Frost auftauen, der den Worten anhing.

      Ein paar Tage nach meiner Geburt klopfte die Alte wieder an unsere Tür, diesmal weil meine Schreie sie aufgeschreckt hatten. Sie fand mich ungewaschen in meinem Körbchen. Meine Mutter gestand, daß sie Angst hatte, mich zu berühren, außer um mir eine Windel anzulegen oder mir das Fläschchen zu geben. Am nächsten Tag schickte die Großmutter ihre Tochter herüber, die anbot, mich tagsüber zu sich zu nehmen, während ihre Kinder in der Schule waren – falls meiner Mutter das recht sei. Es war ihr recht und auch wieder nicht. Meine Mutter war erleichtert, da bin ich mir sicher, doch gleichzeitig fühlte sie sich verurteilt. Aber sie ließ sich darauf ein.

      So wuchs ich in zwei Welten auf, tauchte in die Musik zweier Sprachen ein. Die eine Welt bestand aus Cornflakes und Milton Berle. Die andere aus frittiertem Maisbrot und Salbei. Die eine war kalt, aber meine Welt; die andere war warm, aber nicht meine Welt.

      Als ich vier Jahre alt war, setzten meine Eltern meinem zweiten Leben ein Ende. Eines Abends kamen sie, um mich abzuholen. Ein paar Frauen hatten ein großes Festessen gekocht und alle Kinder zusammengetrommelt. Sie fragten meine Eltern, ob ich nicht bleiben könnte. Mein Vater erschrak, als er eine der Frauen etwas in einer Sprache zu mir sagen hörte, die er nicht verstand, und ich mit Worten antwortete, die er noch nie gehört hatte. Später sagte er, daß er nicht danebenstehen und zusehen könnte, wie sein eigen Fleisch und Blut von Indianerinnen vereinnahmt würde.

      Ich habe über diesen Abend nur Bruchstücke erfahren, weiß also nicht, was sonst noch geschah. Ich wünschte, ich wüßte es. Aber eines habe ich wieder und wieder zu hören gekriegt: Eine Frau sagte zu meinen Eltern, daß ich einen schweren Weg vor mir hätte. Die genaue Wortwahl schwankte beim Wiedererzählen. Manchmal spielte meine Mutter Wahrsagerin, schloß die Augen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: „Ich sehe für dieses Kind ein schweres Leben voraus.“ Dann wieder bellte mein Vater wie der Zauberer von Oz: „Dieses Kind hat einen harten Weg vor sich!“

      Jedenfalls zerrten meine Eltern mich da raus. Aber bevor sie gingen, gab die Großmutter meiner Mutter einen Ring und sagte ihr, er würde mich beschützen helfen. Der Ring machte meinen Eltern angst, aber sie dachten sich, daß der Türkis und das Silber ja etwas wert sein müßten, also nahmen sie ihn an.

      An diesem Abend tobte wieder ein schrecklicher Wüstensturm, dessen Wucht meine Eltern verängstigte. Der Donner krachte, und die Blitze erhellten alles.

      „Jess Goldberg?“ fragte die Lehrerin.

      „Hier“, antwortete ich.

      Die Lehrerin kniff die Augen zusammen. „Was ist denn das für ein Name? Ist das die Kurzform von Jessica?“

      Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Ma’am.“

      „Jess“, wiederholte sie. „Das ist kein Mädchenname.“ Ich ließ den Kopf hängen. Um mich herum hielten die Kinder sich die Hand vor den Mund, um ihr Kichern zu ersticken.

      Miss Sanders starrte sie wütend an, bis sie ruhig waren. „Ist das ein jüdischer Name?“ fragte sie. Ich nickte und hoffte, daß sie mit mir fertig war. War sie nicht.

      „Kinder, Jess ist jüdischen Glaubens. Jess, erzähl der Klasse, wo du herkommst.“

      Ich wand mich auf meinem Stuhl. „Aus der Wüste.“

      „Was? Sprich lauter, Jess.“

      „Ich komme aus der Wüste.“ Ich sah, wie die Kinder sich anstießen und die Augen verdrehten.

      „Aus welcher Wüste? In welchem Bundesstaat?“ Sie schob sich die Brille auf der Nase hoch.

      Ich erstarrte vor Angst. Das wußte ich nicht. „Aus der Wüste.“ Ich zuckte die Achseln.

      Miss Sanders wurde sichtlich ungeduldig. „Warum hat deine Familie beschlossen, nach Buffalo zu ziehen?“

      Wie sollte ich das wissen? Dachte sie vielleicht, Eltern erzählten sechsjährigen Kindern, warum sie große Entscheidungen trafen, die ihr Leben veränderten? „Wir sind gefahren“, sagte ich. Miss Sanders schüttelte den Kopf. Ihr erster Eindruck von mir war kein guter.

      Die Sirenen heulten. Wie jeden Mittwochmorgen gab es Probealarm. Uns wurde eingeschärft, die Bombe wie einen Fremden zu behandeln: bloß keinen Blickkontakt. Wenn ihr die Bombe nicht sehen könnt, kann sie euch auch nicht sehen.

      Es fiel keine Bombe – es war nur eine Übung für den Ernstfall. Aber die Sirene hatte mich gerettet.

      Ich fand es schade, daß wir aus der Wärme der Wüste in diese kalte, kalte Stadt gezogen waren. Nichts hätte mich darauf vorbereiten können, an einem Wintermorgen in einer ungeheizten Wohnung aufzustehen. Auch die Angewohnheit, unsere Kleidung im Backofen aufzuwärmen, bevor wir sie anzogen, half nicht viel. Schließlich mußten wir trotzdem erst mal den Schlafanzug ausziehen. Die Kälte draußen war so stechend, daß der Wind mir in die Nase biß und ins Gehirn schnitt. Die Tränen gefroren mir in den Augen.

      Meine Schwester Rachel war noch ein Kleinkind. Ich kann mich nur an einen mit Schals umwickelten dicken Schneeanzug mit Fäustlingen und Mütze erinnern. Kein Kind, nur Kleidungsstücke.

      Selbst im tiefsten Winter, wenn ich dick eingemummelt war und nur ein paar Quadratzentimeter meines Gesichts zwischen der Kapuze meines Schneeanzugs und meinem Schal herausschauten, hielten mich die Erwachsenen an und fragten: „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Ich senkte verschämt den Blick und zweifelte die Berechtigung dieser Frage niemals an.

      Im Sommer gab es in der Siedlung nicht viel zu tun, aber dafür hatten wir viel Zeit.

      Die Siedlung bestand aus den Gebäuden einer ehemaligen Kaserne, die jetzt die Arbeiter der beim Militär unter Vertrag stehenden Luftfahrtindustrie und ihre Familien beherbergten. Alle unsere Väter arbeiteten in derselben Fabrik; alle unsere Mütter blieben zu Hause.

      Old Man Martin war Rentner. Er saß in einem Liegestuhl auf seiner Veranda und verfolgte die McCarthy-Prozesse im Radio. Es war so laut gestellt, daß wir es im ganzen Viertel hören konnten. „Mußt aufpassen“, sagte er zu mir, wenn ich an seinem Haus vorbeikam, „die Kommunisten können überall sein. Überall.“ Ich nickte feierlich und ging spielen.

      Aber Old Man Martin und ich hatten etwas gemeinsam. Das Radio war auch mein bester Freund. Die Jack Benny Show und Fibber McGee and Molly brachten mich zum Lachen, auch wenn ich gar nicht wußte, was da so lustig war. Bei The Shadow und The Whistler lief es mir eiskalt den Rücken runter.

      Vielleicht gab es in Arbeiterfamilien außerhalb unserer Siedlung schon Fernseher, aber bei uns nicht. Die Straßen der Siedlung waren nicht mal geteert – es gab nur Kieswege und riesige Lincoln-Stämme, die die


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