Lampenfieber. Claudia Spahn
Gefühle des Lampenfiebers äußern sich in übersteigerter Angst, in Gereiztheit, in Gefühlen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins sowie des Kontrollverlusts. Bei manchen Menschen stellt sich in Auftrittssituationen auch ein Zustand ein, in dem sie sich selbst wie durch eine zweite Person von außen wahrnehmen und – während sie auf der Bühne sind – gleichzeitig beobachten. Dieses Phänomen bezeichnen wir als Depersonalisation. Es handelt sich um ein Phänomen, welches bei erhaltenem Realitätsbezug per se als nicht pathologisch einzustufen ist.
Denken
Das Spektrum der Gedanken beim Lampenfieber ist sehr individuell und deshalb immens groß. Trotzdem gibt es wiederkehrende, typische Themen und Inhalte. Ein oft geäußerter Gedanke vor dem Auftritt ist dieser: »Warum bin ich jetzt hier und muss gleich auftreten und sitze nicht mit Freunden im Café?« Daneben kreisen die Gedanken häufig um Personen im Publikum, deren Beurteilung aus beruflichen oder persönlichen Gründen wichtig ist. Bezüglich der Erwartungshaltung vor dem Auftritt gibt es zwei unterschiedliche Tendenzen: Die eine führt dazu, das Beste anzunehmen nach dem Motto: »Es wird schon klappen!«, während die andere vom Schlimmsten ausgeht, die Person im Extremfall sogar sicher ist, dass alles in einer Katastrophe enden wird. Die Tendenz zur negativen Annahme ist meist mit weiteren negativen Gedanken verbunden, z.B. Unsicherheiten überzubewerten, sich klein zu machen gegenüber anderen oder belanglose Ereignisse als negative Vorzeichen zu interpretieren etc. Während des Auftritts können die Gedanken abschweifen, indem sie sich mit Personen im Publikum oder anderen, unpassenden Dingen beschäftigen. Das Denken kann auch auf die Erwartung besonderer Schwierigkeiten beim Auftritt gerichtet sein. Die Gedanken nach dem Auftritt gelten häufig Fragen wie: »War ich gut auf der Bühne, wie bin ich angekommen, wie habe ich gewirkt?« Generell sind Gedankeninhalte im Zusammenhang mit dem Auftritt in der Regel wenig sachlich geprägt und nicht lösungsorientiert, sondern Ausdruck der starken Gefühle in der Auftrittssituation.
Verhalten
Auch auf der Ebene des Verhaltens sind auf der Bühne häufig Phänomene zu beobachten, welche die Präsentation maßgeblich mitgestalten. Insbesondere sind hier die Köperhaltung und die Bewegungen zu nennen. Hochgezogene Schultern, ständiges Räuspern und Hüsteln beim Redner, verkrampft angewinkelte Arme oder auch unwillkürliche nicht zur Musik passende Handbewegungen beim Sänger können als Zeichen der Unstimmigkeit vom Publikum wahrgenommen werden. Dies trifft besonders auch auf die Anteile des Verhaltens zu, die durch die eigentliche Bühnenaktion oder Inszenierung nicht festgelegt sind. Die individuellen Verhaltensweisen im Umgang mit dem Auftritt, wie z.B. Rituale, sind in Zusammenhang mit der Persönlichkeit im Kapitel »Analyse« ab S. 38 näher beschrieben. Bevorstehende Auftritte führen normalerweise dazu, dass wir motiviert sind, uns vorzubereiten und all unsere Ressourcen zu aktivieren. Wird die Angst vor dem Auftritt zu stark, so setzt als typische Reaktion Vermeidung ein. Sie kann sich als Lern- oder Spielblockade in der Vorbereitung auf Auftritte äußern oder in dem Versuch, die Auftrittssituation selbst zu umgehen. So wird von der Pianistin Martha Argerich berichtet, dass es sie als Kind furchtbar nervös machte, vor Publikum zu spielen und dass sie dies gerne vermeiden wollte. Ihr Biograf Olivier Bellamy berichtet: »Zwei Tage vor einem Konzert legte sie einmal ihre Schuhe mit nassem Papier aus, um sich eine Erkältung zu holen und auf diese Weise dem grausamen Frondienst zu entgehen.« (Bellamy, 2011, S. 41) Körperlich kann sich Vermeidung als Müdigkeit oder Erschöpfung zeigen oder auch dazu führen, dass wir uns von anderen zurückziehen. Die gegensätzliche Reaktion besteht darin, dass wir in übermäßige Aktivität verfallen, um der Aufregung keinen Raum zu geben. Auch hierdurch kann jedoch die Aufnahme- und Konzentrationsfähigkeit in der Vorbereitung des Auftritts verringert sein.
Zusammenwirken der Ebenen
Die verschiedenen Ebenen, auf denen sich Lampenfieber äußert, beeinflussen sich gegenseitig. Dieselben körperlichen Werte beim Lampenfieber wie z.B. Pulsschlag und Blutdruck können individuell mit unterschiedlichen Gefühlen verbunden sein (Craske u. Craig, 1984; Abel u. Larkin, 1990; Fredrikson u. Gunnarsson, 1992). So kann eine Person mit starken körperlichen Anzeichen des Lampenfiebers sich sehr gut fühlen, während eine andere Person bei geringeren Anzeichen unangenehme Angst empfindet (Spahn, 2010; auf S. 31f. ausführlicher beschrieben). Es wird deshalb vermutet, dass das Gesamterleben des Lampenfiebers davon abhängt, wie die körperlichen Anzeichen individuell gedeutet werden. So verstärkt eine ängstliche Wahrnehmung des körperlichen Befindens die Symptome eher, während eine ruhige Haltung zur Minderung der Symptome beiträgt. Hieraus können sich selbst verstärkende Kreisläufe in beide Richtungen entwickeln. Die Möglichkeit positiver »Neueinordnung« der körperlichen Symptome kann man auch zur Optimierung des Lampenfiebers nutzbar machen, wie im Kapitel »Maßnahmen« auf S. 94f. ausführlich dargestellt wird.
Warum tritt Lampenfieber auf?
Wie oben erläutert, entsteht Lampenfieber durch ein evolutionsbiologisch sehr altes Programm. Die Ausstattung, Gefahrensituationen zu erkennen und diese erfolgreich zu meistern, sicherte dem Homo sapiens das Überleben. Angst als zentrales Gefühl spielte hierbei eine wichtige Rolle, denn sie lieferte das entscheidende Signal dafür, dass im Körper optimale Bedingungen für Kampf oder Flucht hergestellt wurden. In der frühen Menschheitsgeschichte stellten hauptsächlich wilde Tiere, wie z.B. ein Furcht einflößender Tiger, die lebensbedrohlichen Feinde dar (Abb. 4).
Abb. 4: Tippoo’s Tiger, mechanische Orgel, hergestellt um 1793 für Tipu Sultan, Herrscher des Königreichs Mysore in Indien (Victoria und Albert Museum, London)
Heute müssen wir mit solchen Gefahren im Alltag zwar nicht mehr rechnen. Die Situation der Bedrohung durch ein wildes Tier hat sich jedoch in der kulturellen Praxis des Stierkampfs erhalten, über den Hemingway in seinem Roman »Tod am Nachmittag« (1932) so treffend schrieb: »Der Stierkampf ist die einzige Kunstform, in der sich der Künstler in Todesgefahr befindet.« Der Torero durchlebt dabei eine Form des Lampenfiebers, die durch existentielle Angst geprägt ist, wie eindrucksvoll in Günter Schwaigers Dokumentarfilm »Arena« (2010) oder auch von dem berühmten Stierkämpfer José María Manzanares in einem Zeit-Interview dargestellt wurde (Düker, 2011). Zumeist gelingt es den Toreros, diese Angst zu beherrschen und den Kampf anzunehmen. Nur vereinzelt gibt es Berichte, dass ein Stierkämpfer – wie der mexikanische Matador Christian Hernández – dem Kampf nicht standhielt und flüchtete (Spiegel, 2010).
Auch bei manchen zirzensischen und artistischen Vorführungen ist für den Künstler die Angst, körperlich Schaden zu erleiden, als Kern geblieben. Über seine Erfahrungen berichtet der 45-jährige Falko Traber, Hochseilartist aus der berühmten Traber-Familie, in einem Interview mit Gerd Kempf (2005):
»Höhenangst kenne er [Traber] nur vom Hörensagen, doch der Respekt vor der Tiefe ist dem Hochseilartisten trotz aller Routine geblieben. ›Routine macht es gefährlich‹, weiß Falko Traber, der im zarten Alter von fünf Jahren erstmals die Balance auf dem Hochseil gehalten hat und bis heute als Artist noch jedes Mal vom Lampenfieber gepackt wird, bevor er seinen waghalsigen Beruf ausübt. ›Lampenfieber‹, sagt er, ›ist ein gutes Zeichen, dass die Sinne funktionierend.‹ Wie ein Torero, wenn er die Arena betritt, so verwandelt sich der im Privatleben eher nervöse Falko, sobald er im Kostüm auf das Seil steigt und das Lampenfieber ablegt: ›Da ist man dann ein ganz anderer Mensch.‹ 1996 erlebte er in Baden-Baden aber auch das Gegenteil eines Höhenflugs, als er sich auf dem Seil nicht umdrehen konnte, aber gespürt hat, wie sein ihm mit einer Helmkamera folgender Partner Lutz Schreyer aus 29 Metern vom Seil fiel und diesen Sturz nicht überlebte. Falko selbst stand unter Schock und hat es ›wie ein verletztes Tier gerade noch geschafft herunterzukommen‹. Die Füße vom riskanten Beruf lassen, käme für ihn nicht in Frage, dazu ist er zu fest in die Familientradition eingebunden.«
Wir entnehmen diesem Bericht, dass hier Lampenfieber verbunden ist mit der Realangst vor einer lebensgefährlichen Situation. Gleichzeitig wird die Nähe von Höhenrausch und Absturz – beim Hochseilartisten im ganz wörtlichen Sinne – deutlich. Gerade die Verknüpfung von Hochgefühl und Angst übt eine große Anziehungskraft aus. Diese Mischung – alltagssprachlich auch als »Kick« oder »Thrill« bezeichnet