Traumberuf Tänzer. Wibke Hartewig
mehr, ich wollte kein Gespenst sein. Ich war damals sehr unglücklich, weil ich nicht wie andere auf einen Traum zusteuern und den verwirklichen konnte.« Doch nicht nur ihr Alter und ihr körperliches Handicap lassen sie zweifeln, ob Tänzerin der richtige Beruf für sie ist. »Mein Bewegungsdrang war immer entweder sehr echt oder nicht da. Er war stark abhängig von meiner momentanen gefühlsmäßigen Verfassung. Deswegen habe ich das Tanzen auch so sehr mit mir identifiziert. Bewegung hat für mich immer etwas mit Lebendigkeit und Lebenslust zu tun. Der Drang, mich zu bewegen, überwältigt mich, es ist wie Elektrizität: Es schießt in alle Glieder, in den Kopf, die Haut brennt, die Muskeln brennen, ich muss sie bewegen, muss, muss, muss … Es macht wahnsinnig viel Spaß. Aber es war auch ein Problem. Du musst, wenn du es beruflich machen willst, ja irgendwann Gewalt darüber gewinnen, es steuern können. Und das konnte ich nie, bis heute nicht. Und ich will es auch nicht.«
Bevor Marschner ihren endgültigen Entschluss fasst, bewirbt sie sich noch an den staatlichen Tanzhochschulen, allerdings nur an solchen mit modernem bzw. zeitgenössischem Profil. Für eine Karriere als klassische Tänzerin, so sagt sie sich, sei sie nicht gut genug. Ihre Bewerbungen sind daher von Anfang an nur ein halbherziger Kompromiss. Irgendwie weiß sie das auch, denn sie geht nie zu den Aufnahmeprüfungen. »Es war immer nur Ballett für mich. Ich habe ja auch Modern Dance gemacht und historischen Tanz, aber das hat mich nicht so vom Hocker gerissen. Es war zu einfach. Ballett ist so hart. Wenn du in die Extreme gehen kannst …« Damit fallen tänzerische Alternativen weg.
Rückblickend kann sie weitere Gründe dafür benennen, warum sie nicht Tänzerin geworden ist: »Ich war zu selbstkritisch. Ich habe mir meine eigenen Fehler nicht erlaubt. Also nicht humorvoll genug. Ich wollte nicht in erster Linie tanzen, sondern lieber alles richtig machen. Und die Gewichtung muss klar sein. Man muss aufhören, alles richtig machen zu wollen. Man muss das Tanzen an sich lieben, koste es, was es wolle, und ob man sich lächerlich macht oder was auch immer – man will tanzen. Für mich bestand der sportliche Aspekt des Tanzens darin, die verschiedenen Schwierigkeiten optimal zu meistern. Wahrscheinlich war ich eher eine ziemlich gute Leichtathletin. Mich hat die Technik interessiert und die perfekte Ausführung, aber nicht unbedingt … Ich wollte nicht unbedingt auf der Bühne stehen. Ich bin keine Frontfrau, eigentlich bin ich sehr schüchtern. Und ich glaube, man muss eine echte Rampensau sein.«
Nach dem Abitur schlägt Alexandra Marschner einen Weg ein, auf dem sie sich mit einer weiteren, bislang vernachlässigten Leidenschaft befassen kann: der intellektuellen Auseinandersetzung, dem Lesen, Forschen, der Literatur. Sie studiert Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaft und erhält in allen Fächern Bestnoten. Ihre Abschlussarbeit behandelt ein tanzwissenschaftliches Thema – da schließt sich der Kreis. Mittlerweile hat sie ihre eigene Kulturagentur gegründet, die Sprachunterricht in Kombination mit kulturellen Aktivitäten und Stadtführungen anbietet.
Warum hat sie sich mit 19 entschieden, ganz mit dem Tanzen aufzuhören und es nicht zumindest als Hobby weiterzumachen? »Weil es mir zu weh getan hat. Das war das Gleiche, wie sich von jemandem zu trennen. Dann kann man auch nicht befreundet sein. Es war eine Liebe. Und es hat mir wirklich, wirklich weh getan, dass ich das nicht beruflich machen konnte.«
»Eine ästhetische Lücke füllen« – Adrian Navarro
Adrian Navarro hat es geschafft, seinen Komplex zu überwinden, dass man ihm den klassischen Tänzer zu stark ansieht. »Die Lehrer in den zeitgenössischen Trainings haben mich zum Glück immer alle beruhigt. Einer hat gesagt: ›There’s something before technique.‹ Das fand ich super.« Heute ist Navarro in der freien zeitgenössischen Szene unterwegs, tanzt, singt, choreographiert, performt. »Dabei habe ich mich bis vor Kurzem schon sehr als klassischer Tänzer gesehen und mich, als ich jung war, auch nicht besonders für die anderen Formen interessiert.« Dass er sich in verschiedenen Welten bewegt, zwischen Tanzstilen, Ländern und Jobs pendelt, prägt seine gesamte bisherige Karriere.
Die beginnt sehr klassisch. Als Navarro mit fünf Jahren seine ältere Schwester auf Fotos einer Schulaufführung den Prinzen tanzen sieht, beschließt er, ebenfalls mit Ballett anzufangen: »Damit meine Schwester nie mehr Jungs-Rollen tanzen muss!« Mit neun wechselt er an eine private Schule, die ihn auf die Aufnahmeprüfung an einer renommierten staatlichen Ballettausbildungsstätte vorbereitet. Mit zehn nimmt er an der Prüfung teil und wird dort aufgenommen, bleibt aber nur ein Jahr lang. »Das war ein Sadistenclub, das Zwischenmenschliche hat mich fertig gemacht. Ich hatte aber auch eine schlechte Lehrerin, die mittlerweile nicht mehr an der Schule ist. Von der haben wir noch Sprüche abbekommen wie ›Du bist ein einziger Krampf!‹ oder ›Deine Wurstfinger sind gerade gut genug zum Kartoffelschälen‹.« Als er auch noch von seinen Mitschülern gemobbt wird, nehmen ihn die Eltern von der Schule.
Navarro will trotzdem weitertanzen und kehrt an seine vorige Ballettschule zurück. Dort gibt es Förderklassen, in denen er dreimal pro Woche Ballett trainieren kann. »Die Leiterin dort hat wirklich auf Talent geachtet, nicht nur auf Geld. Und meine Lehrerin konnte mir auch künstlerischen Input geben, weil sie selber lange auf der Bühne gestanden hatte.« Ergänzenden Unterricht stellt er sich selbst zusammen, nimmt an anderen Schulen Jazz-, Modern- und Ballettstunden und besucht Workshops. Außerdem genießt er es, dem Tanzen immer mal wieder entfliehen zu können, ist in den AGs seines Gymnasiums aktiv, nimmt Cello-Unterricht, singt und spielt Volleyball und Tennis im Verein.
Mit 17 Jahren wird er auf einem Workshop von der Leiterin einer staatlichen Tanzhochschule angesprochen und gefragt, ob er sich nicht um einen ihrer Studienplätze bewerben möchte. Da er auf jeden Fall parallel sein Abitur machen will, einigen sie sich darauf, dass er zunächst zwei Jahre lang an den nachmittäglichen Vorausbildungsklassen teilnimmt und dann im Anschluss, nach bestandener Prüfung, direkt ins zweite Studienjahr wechseln kann. Dass er an der Hochschule zwar eine solide klassische Ausbildung und Bühnenpraxis erhält, dafür aber mit modernen und vor allem zeitgenössischen Techniken, mit Körperwahrnehmungstechniken und Improvisation kaum in Kontakt kommt, stellt für ihn zu diesem Zeitpunkt noch kein Problem da.
In den zwei Jahren gegen Ende und nach seiner Ausbildung nimmt er an jeweils zehn Auditions an Stadttheatern teil – eine normale Anzahl, wie er schätzt. »In der ersten Audition-Runde hat man zwar eine Ahnung, weiß aber noch gar nicht, was stilistisch zu einem passt, man kennt ja die ganze Szene noch nicht. Da fährt man natürlich schon ein bisschen wahllos an alle möglichen Orte. Und das ist auch gut so, denn man muss erst mal eine Audition-Praxis entwickeln.«
Navarros erster Vertrag, den er im Jahr nach Studienende erhält, führt ihn als Praktikant an das Opernhaus einer größeren deutschen Stadt. Nach einem Jahr wechselt er zu einem schwedischen Ballettensemble, nach einem weiteren zurück nach Deutschland zur Kompanie eines Staatstheaters, wo er drei Jahre lang bleibt – überall als Gruppentänzer, zum Teil mit Soloverpflichtung. Zu diesem Zeitpunkt ist ihm klar, dass er entweder mehr zum Tanzen kommen oder aber an ein größeres Haus mit entsprechend breiterem Repertoire gehen will. Es wird Letzteres: ein dreijähriges Engagement als Gruppentänzer bei einer großen Ballettkompanie in Schweden.
In dem Ensemble mit seinen 73 Tänzerinnen und Tänzern bestätigt sich für Adrian Navarro eine Erfahrung, die er bereits bei seinen vorigen Jobs gemacht hat: Je klassischer die Kompanie, desto mehr muss man in erster Linie funktionieren. Der einzelne Tänzer ist ein Rad in der riesigen Maschinerie, eingebettet in faire Verträge und Gehälter, muss dafür aber eine große Anzahl an Vorstellungen ableisten und ständig auf Abruf bereit sein, bei Ausfällen kurzfristig einzuspringen; jederzeit werden Höchstleistungen erwartet. Im Gegenzug bekommt er Gelegenheit, Stücke der choreographischen Crème de la Crème zu tanzen und sie zum Teil mit den Choreographen persönlich einzustudieren – von Ashton, MacMillan und Cullberg hin zu Zeitgenossen wie Ek, Duato, Maillot, Spuck und Rushton.
Die Kompanie funktioniert als eigener Kosmos, der viele Möglichkeiten bietet, aber auch eng werden kann. »In großen klassischen Kompanien hat man jeden Tag mit den gleichen Leuten zu tun, bei jedem Training, und wenn man Pech hat, auch immer mit dem gleichen Ballettmeister – da stauen sich dann Sachen an. Es kann aber auch passieren, dass man einzelne Kollegen lange nicht sieht, weil das Training parallel in vier Sälen stattfindet und sie woanders trainieren und nicht in den gleichen Stücken besetzt sind.«