Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
leben mietfrei in dem hübschen Haus, das Ihrem Bruder gehört. Oder zahlen Sie Miete?«
Grete Vollmers sah Hanna vernichtend an und fragte spöttisch:
»Ich wüßte nicht, was Sie das angeht, Frau Dr. Martens. Ich bin hier, um mit Ihnen über meinen Neffen zu sprechen. Bleiben Sie also gefälligst beim Thema.«
»Oh, das ist mein Thema, Frau Vollmers. Das Jugendamt ist damit einverstanden, daß Sie Florian abgeben.«
Nun war Grete doch für einen Augenblick sprachlos. Aber wirklich, wie gesagt, nur für einen Augenblick. Dann beugte sie sich vor und zischelte, ohne Hanna aus den Augen zu lassen:
»Woher wollen Sie das denn wissen? Noch habe ich ja nichts unternommen.«
»Nein, aber Sie haben Ihre Absichten sehr deutlich bekanntgegeben. Deshalb haben wir von der Klinik uns mit dem Jugendamt in Lüneburg in Verbindung gesetzt. Wir sind schließlich hier die behandelnden Ärzte und wissen besser Bescheid, was für den Jungen gut ist oder nicht.«
»Und Sie sagen, daß es für ihn gut ist, wenn er in ein Heim kommt?«
Grete Vollmers’ Gesicht zeigte nicht, was sie dachte.
»Von einem Heim habe ich nichts gesagt. Ich habe da eher an eine Pflegestelle gedacht.«
»Was soll das? Ich will, daß der Junge in ein Heim kommt, damit er mit anderen Kindern aufwachsen und sich in die Gemeinschaft einfügen kann.«
»Sie wissen, daß es heutzutage nicht mehr so einfach ist wie noch vor einigen Jahren, ein Kind einfach in ein Heim zu geben, nicht wahr?« sagte Hanna unverändert freundlich. »Ein Kind ist keine Sache, derer man sich so einfach entledigen kann. Heutzutage steht das Wohl des Kindes im Vordergrund, Frau Vollmers. Ich finde, das ist ein Wandel, den man durchaus begrüßen kann.«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich habe mir nur vorgenommen, Florian in ein Heim zu geben, weil ich es nicht mehr schaffe.«
»Also, um es kurz zu machen – das Jugendamt ist mit der Pflegestelle, die mein Bruder vorgeschlagen hat, einverstanden. Und Florian auch, sehr sogar.«
»Florian!« stieß Grete Vollmers verächtlich hervor. »Hat der auch was zu sagen? Er ist ein Kind.«
»Oh, immerhin geht es doch um ihn, Frau Vollmers, nicht wahr? Ich sagte ja schon, daß man heute zunächst einmal herauszufinden versucht, was für das Kind am besten ist. Und das Jugendamt meint, für Florian sei es besser, wenn er in einer intakten Familie aufwächst und nicht als Heimkind.«
»In einer intakten Familie!« Jetzt sah Grete Vollmers ausgesprochen höhnisch drein. »Die finden Sie man erst, Frau Dr. Martens. Mit intakten Familien ist es wie mit der berühmten Nadel im Heuhaufen. Man findet sie nicht oder nur höchst selten.«
»Nun, dann kann Florian ja froh sein, daß er eine Familie gefunden hat, in der er aufwachsen darf.«
»Alle Achtung, das ging aber schnell. Daß man erst mein Einverständnis einholen muß, scheint hier niemandem eingefallen zu sein.«
»Aber ich bitte Sie, Frau Vollmers! Ich finde, mein Bruder hat Ihnen da eine ganze Menge Arbeit abgenommen. Sie haben nicht nur einmal gesagt, daß Sie den Jungen in ein Heim geben wollen. Das hat Florian verängstigt. Und da wir eine Familie kannten, die ihn sehr gern bei sich aufnehmen würde, haben wir sie der Behörde auch vorgeschlagen.«
»Ich dachte, Sie sind Ärztin!« Nun sah Grete Vollmers ausgesprochen wütend drein. Und Hanna gab ehrlich vor sich selbst zu, daß sie das ein wenig freute. Aber selbstverständlich ließ sie sich das nicht anmerken, auch dann nicht, als Grete hämisch hinzufügte: »Sollten Sie sich da nicht lieber auf das leibliche Wohl Ihrer Patienten beschränken?«
»Das leibliche und seelische Befinden eines Menschen gehören zusammen, Frau Vollmers. Ist die Seele nicht gesund, kann auch der Körper nicht gesund werden. Eigentlich eine ganz einfache und logische Erkenntnis, die aber erst in unserer Zeit an Bedeutung gewonnen hat.«
»Streiten wir uns nicht über Auffassungen. So interessant finde ich das nicht. Ich will nur wissen, wie weit die Sache mit Florian gediehen ist. Im Prinzip begrüße ich es sehr, wenn der Junge von mir fortkommt, weil ich nicht mit ihm zurechtkommen kann. Aber wo soll er hin? Und dann – ob mein Bruder damit einverstanden ist, weiß man doch auch nicht. Er hat den Jungen zwar im Stich gelassen – aber er ist immer noch der Vater.«
»Bis Florian mündig ist und selbst bestimmen kann, wohin er gehen will – und wenn es Brasilien sein sollte – behält sich die Behörde vor, zu entscheiden, was für ihn gut oder nicht gut ist. Und man entscheidet auch nicht willkürlich, sondern immer nach dem Gesichtspunkt, was für Florian am besten ist. Und man hat eingesehen, daß eine richtige Familie besser für Florian ist als das Heim.«
»Kann ich wenigstens erfahren, wohin Florian kommt? Ich meine, ich möchte es gern wissen, damit ich ihn dann und wann besuchen kann.«
»Da werden Sie es nicht weit haben, Frau Vollmers. Florian kommt zu den Markmanns, die Sie ja auch kennen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie glücklich er sein wird, wenn er es erfährt. Noch weiß er es nämlich nicht.«
»Ich höre wohl nicht recht?« Grete Vollmers starrte Hanna wütend an. »Sagten Sie wirklich, daß Florian zu den Markmanns soll?«
»Ja, das ist wunderbar, nicht wahr? Die beiden Buben sind miteinander befreundet. Und bei den Markmanns ist das, was Florian braucht – Harmonie, Verständnis, Zuwendung und Liebe.«
»Ich will nicht, daß Florian im Hause eines Zuchthaus-Beamten aufwächst.«
»Es gibt nichts gegen diesen Beruf einzuwenden, Frau Vollmers. Außerdem gibt es doch auch gar keine Zuchthäuser mehr. Es gibt nur noch Strafvollzugs-Anstalten.«
»Ach was, das sind alles Wortklaubereien. Für mich ist ein Zuchthaus immer noch ein Zuchthaus. Und ich wehre mich ganz entschieden dagegen, daß man Florian ausgerechnet zu den Markmanns gibt. Ich will nicht, daß er überhaupt in Ögela bleibt. Was sollen denn die Leute sagen?«
»Ach, darum würde ich mich an Ihrer Stelle gar nicht kümmern, Frau Vollmers. Geklatscht wird
überall und zu jeder Zeit. Aber es dauert nicht lange, dann wird das Thema gewechselt.«
Grete Vollmers erhob sich und sah Hanna, die ebenfalls aufstand, verächtlich an.
»Ich sage Ihnen jetzt schon, daß ich mich selbstverständlich mit allen Mitteln wehren werde.«
»Das bleibt Ihnen unbenommen, Frau Vollmers. Bedenken Sie aber auch, daß man, wenn es sein muß, auch Florian hören wird. Und ich glaube sicher, daß er sich für das Verbleiben in der Familie Markmann entscheiden wird.«
»Das wird sich noch herausstellen. Ich gehe jetzt augenblicklich zu Florian und rede ihm ins Gewissen.«
»Sehen Sie, Frau Vollmers – und gerade das wollen wir vermeiden. Wir haben festgestellt, daß Florians Leiden seelische Ursachen hat. Ursachen, die unmittelbar mit Ihnen zusammenzuhängen scheinen.«
Man konnte ordentlich spüren, daß Grete erstarrte. Sie ließ sich wie kraftlos auf den Stuhl zurücksinken und starrte zu Hanna, die am Fenster stehengeblieben war, empor.
»Das wird ja immer schöner! Jetzt fehlt nur noch, daß Sie behaupten, ich würde den Bengel krank machen.«
»Aber ich fürchte, genau darauf läuft es hinaus!« sagte Hanna ruhig und fuhr fort, ehe Grete wieder das Wort ergreifen konnte. »Es steht jedenfalls fest, daß Florian seine Schmerzanfälle bekommt, wenn Sie ihn besucht haben. Ich finde, wenn wir schon wissen, was ihm schadet, sollten wir das vermeiden.«
»Das bedeutet also, daß Sie mir verbieten, meinen Neffen zu besuchen, nicht wahr?« fragte Grete heiser. Sie war beinahe unfähig, ein Wort hervorzubringen, so wütend war sie. Aber Hanna blieb freundlich und verbindlich, als sie nickte und erwiderte:
»Wir sind dazu da, unsere kleinen Patienten gesund zu machen, Frau Vollmers. Dazu gehört, daß sie sich