Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
Sie dachte an Nils, um den sie sich Sorgen machte. Sorgen, die sich täglich vergrößerten. Nils machte nicht den Eindruck, als hätte er sich im sonnigen Kärnten erholt. Er war blaß, immer etwas unlustig. Manchmal hatte Madlon das Gefühl, daß er sich doch noch nicht richtig von seinem Bootsunfall erholt hätte. Es war nur ein Gefühl, doch im allgemeinen lag sie damit immer richtig. In den letzten beiden Tagen war ihr aufgefallen, daß Nils das linke Bein nachzuziehen schien. Sie hatte Nils gefragt, ob er Schmerzen in dem Bein hätte, aber er hatte es verneint. Trotzdem stimmte da etwas nicht.
Madlons Gedanken wanderten weiter. Ein schmales, lächelndes Männergesicht tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Sie hörte wieder Kays Worte: Ich liebe dich…
Kay... Wenn er doch jetzt hier wäre und ihr einen Rat geben könnte. Hatte sie ihm nicht versprochen, daß sie sich wiedersehen würden?
Sie dachte sehr viel an ihn. Sie fühlte sich stark zu ihm hingezogen. Es war ein schönes Gefühl. Aber sie war sich nicht sicher, ob es Liebe war. Oder war sie nur unsicher, weil sie nicht noch einmal eine Enttäuschung erleben wollte?
Sie mußte ihn wiedersehen, um sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Bei diesem Beschluß fühlte sie sich gleich nicht mehr so einsam.
Die Ruhe, die Sonne und die Gedanken an einen schönen Traum machten sie schläfrig, und Madlon schlummerte ein wenig ein.
Durch lautes Hupen vor dem Haus wurde sie plötzlich aufgeschreckt. Wieder ertönte die Autohupe vor dem Haus. Das konnte doch nur für sie sein!
Hastig erhob sie sich und eilte zur Vordertür. Fassungslos sah sie auf den Mann, der dem Wagen entstieg.
»Was willst du hier, Guido? Wenn du Nils auch jede Woche einmal sehen kannst, wünsche ich nicht, daß du herkommst.«
Alles in Madlon stellte sich auf Abwehr ein. Sie fühlte sich völlig überrumpelt.
»Reg dich nicht gleich auf, Madlon. Wenn ich herkomme, so werde ich wohl auch einen Grund haben. Ich bringe Nils zurück. Ich konnte es nicht riskieren, eine Radtour mit ihm zu machen. Mit ihm scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Du solltest so bald wie möglich mit ihm zum Arzt gehen.«
»Was ist denn mit ihm?«
Angstvoll sah sie ihren geschiedenen Mann an.
»Es ist doch nichts, Mutti«, mischte Nils sich ein, »ich bin schon wieder ganz in Ordnung, ehrlich.«
»Ja, aber Vati sagte doch…« Verärgert sah Madlon Guido an.
»Es ist ja auch nichts Schlimmes passiert, Madlon. Nils ist einfach mit seinem linken Bein weggeknickt, und er sagte, er habe keine Schmerzen. Merkwürdig. Ich habe ein ungutes Gefühl und mache mir Sorgen um den Jungen. Das wenigstens kannst du mir nicht verwehren. Wenn ich ihn mit dem Fahrrad hätte fahren lassen, und es wäre noch einmal geschehen... Nicht auszudenken, was dabei passieren kann. Ich hole nur noch sein Rad aus dem Kofferraum, dann bin ich auch schon wieder weg. Ich hatte ja keine Ahnung, daß dir mein Anblick so zuwider ist. Darf ich mich wenigstens telefonisch erkundigen, ob Nils etwas Ernsthaftes fehlt?«
»Selbstverständlich werde ich es dich sofort wissen lassen, wenn es dich interessiert.«
»Wenn es mich interessiert, Madlon, sag mal, für was hältst du mich eigentlich? Nils ist genauso mein Sohn wie der deine. Ich liebe Nils und möchte, daß er gesund und glücklich ist«, entfuhr es dem Mann empört.
»Das fällt dir aber reichlich spät ein, Guido.«
»Schon gut, Madlon, es ist wohl besser, wenn ich fahre. Mit dir kann man ja schon lange kein vernünftiges Wort mehr reden. Ich kann dich nur bedauern. Ruf mich an, wenn du mit Nils beim Arzt warst, um mehr bitte ich dich ja gar nicht.«
Guido van Enken wandte sich abrupt ab und stieg in seinen Wagen. Mit aufheulendem Motor schoß der Wagen davon.
Ein schmerzliches Gefühl stieg in Madlon hoch, als sie dem Wagen nachsah. Es war das erste Mal seit der Scheidung, daß sie Guido wiedergesehen hatte. Und was das Schlimme war, sie erkannte gleichzeitig, daß sie sich etwas vorgemacht hatte.
Ein trauriges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie ihrem Jungen folgte, der schon längst im Haus verschwunden war.
Es dauerte noch einige Minuten, ehe sie ihre innere Ruhe einigermaßen zurückgewonnen hatte.
Langsam ging sie nach oben zu Nils ins Kinderzimmer. Nils hatte sich auf sein Bett gelegt und starrte gegen die Decke. Madlon setzte sich auf die Bettkante und bemerkte, daß in seinen Augen Tränen glitzerten.
»Was ist denn mit dir, Kind? Du weinst ja. Hast du Schmerzen?«
»Nein, Mutti, mir tut nichts weh. Aber du und Vati, ihr habt euch schon wieder gestritten.«
»Wenn du älter geworden bist, wirst du das verstehen. Jetzt erzähle mir aber bitte, was denn eigentlich geschehen ist, daß eure Radtour ausfallen mußte. Ich habe nicht so richtig verstanden, was Vati gemeint hat.«
»Na, weißt du, Mutti, es ist manchmal so komisch in meinem Knie, so als ob es ganz schwer ist. Manchmal zieht es ein bißchen da drin, aber das geht immer schnell wieder vorbei. Und heute war es so, als ob ich auf einmal gar kein linkes Bein mehr hätte, und da bin ich hingefallen. Deshalb hat Vati mich auch mit dem Auto nach Hause gebracht. Es hatte nicht weh getan, und es tut auch jetzt nicht weh. Komisch, nicht?«
»Wir werden sofort am Montag zu einem guten Arzt gehen, der dich mal gründlich untersuchen wird und dein Knie röntgt. Ich weiß auch schon, wohin wir zur Untersuchung fahren werden. Am besten bleibst du bis Montag schön liegen. Ich werde dir unten im Wohnzimmer die Couch zurechtmachen, und dann werden wir beide ein gemütliches Wochenende verbringen.«
»Och, Mutti, ich darf bei dem schönen Wetter nicht nach draußen gehen?«
»Nein, besser nicht, sonst passiert noch etwas. Wir wollen lieber vorsichtig sein, bis wir beim Arzt waren. Du gefällst mir überhaupt in den ganzen letzten Tagen schon nicht so recht.«
»Mir fehlt aber nichts, ganz bestimmt, Mutti. Ich bin nur so oft müde.«
»Dann schlaf ein bißchen, und danach mache ich uns ein gutes Essen.«
Madlon verließ lächelnd das Kinderzimmer. Nachdem sie die Tür von außen zugeschoben hatte, fiel das Lächeln wie eine Maske ab.
Das Nahen drohenden Unheils legte sich ihr wie ein Ring um die Brust. Sie begann sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht und nicht richtig auf den Jungen geachtet hatte. Sie wollte ihm gegenüber zwar auch weiterhin ein lächelndes Gesicht zeigen, aber sie wußte schon in diesem Moment, daß sie am Montagmorgen unverzüglich mit ihm zum Arzt fahren würde, um sich Klarheit zu verschaffen.
Sie hatte den festen Entschluß gefaßt, daß Kay jetzt der einzige war, der für diese Untersuchung in Frage käme.
*
Wie immer hielt Hanna am Montagmorgen ihre ambulante Sprechstunde ab, als Kay zu ihr ins Sprechzimmer kam.
»Hast du heute viel zu tun, Hanna?«
»Es reicht. Weshalb fragst du?«
»Ich wollte dich bitten, heute etwas früher Schluß zu machen. Ich brauche dich im Operationssaal. Es wird ein Notfall gebracht, und Dr. Küsters ist gerade aus dem Haus. Du weißt ja, daß er in der vergangenen Nacht den Bereitschaftsdienst hatte.«
»Ja, sicher, Kay. Du kannst auf mich zählen. Wann, denkst du, ist es soweit?«
»Sobald man die Patientin, ein zehnjähriges Mädchen, eingeliefert hat, werde ich die notwendigen Voruntersuchungen durchführen. Ich rechne damit, daß wir in etwa einer Stunde operieren können. Bis jetzt weiß ich noch recht wenig.«
»Gut, bis dann bin ich auch fertig. Solltest du meine Hilfe schon eher benötigen, dann schick mir eine Schwester. Ansonsten komme ich zur Operationsabteilung, wenn ich hier mit der Sprechstunde fertig bin. Hoffentlich ist es nicht zu ernst.«
»Hoffentlich, Hanna, also, bis dann.«
Noch