Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina Kaiser
in ein paar Tagen noch einmal bei Ihnen melden, wenn Sie in Ruhe über die Situation nachgedacht und vielleicht auch mit Ihrer Frau darüber gesprochen haben.«
»Meine Frau und ich sind einer Meinung, daran wird sich auch nichts ändern«, erwiderte Thorsten frostig. »Ein erneuter Anruf würde zu nichts führen. Wir haben kein Enkelkind, jedenfalls keins, das wir in irgendeiner Form akzeptieren könnten. Ich bin mit den gesetzlichen Regelungen auf diesem Gebiet nicht vertraut. Möglicherweise kann man uns für den Unterhalt dieses Mädchens zur Verantwortung ziehen. Wenn das der Fall ist, können wir uns leider nicht dagegen wehren. Falls man Unterhaltszahlungen von uns verlangt, werden wir wahrscheinlich automatisch informiert. Ich denke nicht, dass wir dann einen Rechtsstreit führen werden. Das tun wir aber nur deshalb nicht, weil es uns zu lästig ist und weil wir durch Unterhaltsleistungen nicht spürbar ärmer werden. Kontakte zu dieser Tochter eines italienischen Taugenichts lehnen wir jedoch kategorisch ab. Mehr kann ich dazu nicht sagen, und ich möchte diesbezüglich auch nicht noch einmal behelligt werden.«
Denise sah ein, dass sie auf verlorenem Posten stand. Sie hätte mit Engelszungen auf Thorsten Ellinger einreden können, und doch wäre es unmöglich gewesen, etwas zu erreichen. Die Ellingers verabscheuten ihre Tochter und alles, was mit ihr zu tun hatte, abgrundtief. Das schwere Schicksal eines kleinen Mädchens berührte sie in keiner Weise. Mitgefühl war für diese Menschen ein Fremdwort. Deshalb verabschiedete Denise sich und legte auf.
»Was sind das nur für Menschen?«, fragte Nick erschüttert und schüttelte verständnislos den Kopf. »Niemand hat erwartet, dass die Ellingers Romina mit offenen Armen empfangen und augenblicklich in ihre Herzen schließen würden. Aber dieses Verhalten ist unglaublich. Derartiges habe ich noch nie erlebt.«
»Ich schon«, entgegnete Denise lächelnd. »Allerdings muss ich gestehen, dass es höchst selten vorgekommen ist, und das ist auch gut so. Wenn alle Menschen so wären, würden wir in einer Welt leben, deren Härte und Kälte niemand ertragen könnte. Zum Glück scheint Romina nichts von der Existenz ihrer Großeltern zu wissen. Deshalb kann sie unter deren Abneigung nicht noch zusätzlich leiden.«
»Das wäre wirklich schlimm. Ich glaube, wir sollten ihr gar nicht erzählen, dass es da noch Verwandte gibt. Es ist für sie besser, wenn sie es nicht erfährt. Oder sind wir etwa gesetzlich verpflichtet, sie darüber in Kenntnis zu setzen? Das kann nicht hilfreich für sie sein.«
»Die verwandtschaftlichen Verhältnisse müssen dokumentiert werden. Das ist allein schon deshalb nötig, weil Romina gegenüber ihren Großeltern einen Erbanspruch hat. Aber bis dieser Erbfall eintritt, wird noch eine Menge Zeit verstreichen.« Denise seufzte. »Vermutlich ist sie bis dahin erwachsen. Vorläufig braucht Romina nichts zu erfahren. Du hast ganz recht. Das ist besser für sie. Die Kleine hat es schwer genug, auch wenn sie sich inzwischen bei uns schon prima eingelebt hat. Sie soll nicht unnötig belastet werden. Also erwähne das Gespräch mit den Großeltern auch den anderen Kindern gegenüber nicht. Sie könnten sich unbeabsichtigt verplappern.«
»Kein Wort kommt über meine Lippen«, versprach Nick. »Darauf kannst du dich verlassen.«
Noch immer war Nick völlig fassungslos. Thorsten Ellingers harte Worte klangen noch in ihm nach. Dieser Mann hatte es nicht einmal für nötig befunden, auch nur einmal den Namen seiner Enkeltochter zu erwähnen. Durch die Abneigung gegenüber seiner Tochter schien er auch die Enkelin regelrecht zu hassen, obwohl er sie überhaupt nicht kannte.
Nick fragte sich, wie seine Eltern wohl reagieren würden, wenn er eine Beziehung mit einer italienischen Schaustellerin eingehen würde. Natürlich plante er nichts dergleichen. Es war nur diese interessante Frage, die ihm durch den Kopf ging. Vermutlich würden sie nicht sofort begeistert sein, aber doch eingehend prüfen, ob er mit dieser Frau glücklich werden könnte. Wenn ihnen dann klar wurde, dass aufrichtige Liebe von beiden Seiten im Spiel war, würden sie seine Entscheidung akzeptieren. Statt ihn aus der Familie zu verbannen, würden sie ihm und seiner großen Liebe alles Glück dieser Welt wünschen, und ein Enkelkind wäre ihnen jederzeit willkommen.
Arme kleine Romina, dachte Nick. Das Schicksal hatte ihr die Eltern genommen. Trotzdem hatte sie noch Familienangehörige.
Doch von denen durfte sie nicht erfahren. Vielleicht war das in jeder Hinsicht besser so. In Nick kochte der Zorn. Eine so nette Enkeltochter wie Romina hatten die Ellingers überhaupt nicht verdient!
*
Thorsten und Barbara Ellinger hatten ihre Tochter Linda und ihren Schwiegersohn über den Tod von Jenny und Alessandro Castello informiert. Die beiden jungen Leute waren erschüttert und machten sich gleich auf den Weg zu den Ellingers. Sie wohnten etwa sechzig Kilometer weit entfernt. Nach ihrer Meinung war der Tod zweier Menschen Anlass genug, noch einmal in Ruhe über alles zu sprechen. Linda und Daniel machten sich Vorwürfe, weil sie in den vergangenen Jahren nie versucht hatten, Kontakt zu Jenny aufzunehmen. Das schlechte Verhältnis zu den Eltern hätten sie zwar nicht in Ordnung bringen können. Aber möglicherweise wäre es ihnen gelungen, wenigstens eine lockere Verbindung zu halten. Stattdessen hatten sie beiden ihr Leben gelebt und nicht weiter über die familiären Verhältnisse nachgedacht. Jetzt fühlten sie sich schuldig und wollten in Erfahrung bringen, ob es den Eltern vielleicht ähnlich erging.
Thorsten und Barbara freuten sich, als Tochter und Schwiegersohn unerwartet erschienen. Sie baten die beiden sofort in ihre Wohnung, die im Seitenflügel des Hotels lag, und ließen sich aus der Küche Kaffee und Torte bringen. Linda liebte die geräumige Wohnung ihrer Eltern. Besonders das riesig anmutende Wohnzimmer, dessen bodentiefe Fenster den Blick in den Hotelpark freigaben, gefiel ihr. Einen Moment lang genoss sie diesen herrlichen Blick, bevor sie zum Thema kam: »Wir finden es schrecklich, dass Jenny und ihr Mann ums Leben gekommen sind. Obwohl ich seit Jahren keine Verbindung mehr zu ihr hatte, kann ich es noch immer nicht so recht begreifen, dass Jenny nicht mehr da ist.«
Barbara nickte. »Ich kann dich gut verstehen. Für uns Eltern ist das auch schwer zu begreifen. Aber wir haben von Anfang an gespürt, dass die Verbindung mit Alessandro Castello unter keinem guten Stern stand. So eine Katastrophe war eigentlich abzusehen. Wer sein Leben lang in einem billigen Wohnwagen unter unwürdigen Verhältnissen haust, muss damit rechnen, dass irgendwann einmal alles in Flammen aufgeht.«
»Das sind Vorstellungen aus längst vergangenen Zeiten«, bemerkte Daniel. »Die Wohnmobile der Schausteller sind heute nicht mehr billig und bieten allen nur denkbaren Komfort. Oft sind es bewegliche Einfamilienhäuser, die keine Wünsche offen lassen. Unwürdig sind die Verhältnisse jedenfalls nicht.«
»Mag schon sein«, gab Thorsten zu. »Aber das ganze Milieu ist indiskutabel. Wer will schon ständig mit seinem Haus herumreisen und es irgendwo auf schlammigen Plätzen und versumpften Wiesen stehen haben? Das ist doch kein Leben. Und in diese Verhältnisse werden dann auch noch Kinder hineingeboren, deren Heimat ungepflegte Kirmesplätze sind. Was soll aus so einem Kind denn werden? Sie können noch nicht einmal eine vernünftige Schule besuchen und lernen nichts. Am Ende gehen sie denselben Weg wie ihre Eltern und werden verkrachte Existenzen, die sich mit einem Fahrgeschäft gerade so über Wasser halten können. Vielleicht hat die Tochter von Jenny und diesem Italiener jetzt mehr Glück. Im Kinderheim wird man schon dafür sorgen, dass sie etwas lernt und vernünftig erzogen wird.«
Linda und Daniel saßen da wie vom Donner gerührt. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiederfanden.
»Jenny und Alessandro hatten ein Kind?«, fragte Linda fassungslos. »Und dieses kleine Mädchen ist bei dem Feuer nicht ums Leben gekommen? Davon habt ihr uns noch gar nichts erzählt! Warum habt ihr uns das bisher verschwiegen? Das verstehe ich nicht.«
»Wir haben es selbst gestern erst erfahren. Die Leiterin eines Kinderheims aus Wildmoos hat uns angerufen und uns mitgeteilt, dass sich das Mädchen in ihrer Obhut befindet. Ich glaube, das Kinderheim heißt Sophienlust oder so ähnlich. Aber das spielt keine Rolle. Es ist auch völlig egal, ob Jenny und ihr Partner ein Kind miteinander hatten. Warum sollten wir euch unwichtige Dinge mitteilen?«
»Also, ich finde das überhaupt nicht unwichtig«, ließ Daniel sich vernehmen. »Dieses kleine Mädchen tut mir unendlich leid. Ich darf gar nicht daran denken, was es durchmachen musste und wie traurig und verzweifelt